Politik

Expertenrat für Strategiewechsel bei Coronamaßnahmen

  • Mittwoch, 8. Juni 2022
/REDPIXEL, stock.adobe.com
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Berlin – Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hat sich mit Blick auf eine mögliche neue Coronawelle im Herbst für einen Strategiewechsel bei den Schutzmaßnahmen ausgesprochen. Vom bisherigen Ansatz der Eindämmung solle zu einem Ansatz des Schutzes vulnerabler Gruppen und der Abmilderung schwerer Erkrankungen übergegangen werden, erklärte heute der aus 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bestehende Rat. Voraussetzung sei, dass keine neuen gefährlichen Virusvarianten auftauchen und die Krankheitslast dies zulasse.

Die weitere Entwicklung des SARS-CoV-2-Virus „ist derzeit nicht verlässlich vorhersagbar“, betonte der Expertenrat. Eine Abschwächung der krankmachenden Eigenschaften des Virus sei vorstellbar, könne jedoch nicht vorausgesetzt werden.

Die Bevölkerung müsse sich darauf einstellen, dass COVID-19 und andere Atemwegsinfektionen wie die Grippe im Herbst und Winter 2022/23 saisonal bedingt zunehmen, heißt es in der 23-seitigen elften Stellungnahme des Rats weiter. Die verbleibende Impflücke in der Bevölkerung und die abnehmende Immunität im Laufe der Zeit, die Virusevolution und die Krankheitsaktivität durch andere Atemwegserreger würden „das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur“ wahrscheinlich erneut erheblich belasten.

Drei mögliche Szenarien

Der Klinikdirektor Leif Erik Sander von der medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie an der Charité in Berlin stellte dabei drei mögliche Szenarien für den Herbst und Winter vor. Bei einem sogenannten „Günstigsten Szenario“ mit einer neuen Virusvariante, die im Vergleich zur Omikron-Variante weniger krankmachende Eigenschaften besäße, würden stärker eingreifende Infektions­schutzmaßnahmen nicht nötig sein, beziehungsweise nur für den Schutz von Risikopersonen. Hier würden Infektionshäufungen das Gesundheitssystem kaum belasten, allerdings könnte es zu höheren Infektions­zahlen durch andere Atemwegserreger wie Influenza kommen.

Das „Basisszenario“ geht davon aus, dass die durch SARS-CoV-2 hervorgerufene Krankheitslast ähnlich bleibt wie bei den aktuellen Varianten. Damit könnte es zu einem gehäuften Auftreten von Infektionen und Arbeitsausfällen kommen. Trotz einer moderaten Belastung der Intensivmedizin aufgrund von COVID-19-Fällen könnten aufgrund der Arbeitsausfälle allerdings flächendeckende Maßnahmen wie Masken und Abstand in Innenräumen notwendig werden. Regional könnten hier auch Kontaktreduktionsmaßnahmen nötig werden.

Bei einem möglichen „Ungünstigsten Szenario“ gebe es eine neue Virusvariante mit erhöhter Krankheitsschwere und verstärkter Übertragbarkeit. Auch vollständig Geimpfte könnten ohne eine Zusatzimpfung hier schwere Krankheitsverläufe durchleben. Hier wäre das Gesundheitssystem durch die COVID-19-Fälle stark belastet und allgemeine Schutzmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Maskenpflicht könnten erst im Frühjahr 2023 heruntergefahren werden.

Soziale Teilhabe muss Priorität haben

Zugleich mahnte der Expertenrat: „Die Sicherung der sozialen Teilhabe durch Schul- und Kitabesuch sowie sportliche und kulturelle Aktivitäten muss weiterhin Priorität genießen.“ Empfohlen werden unter anderem Strategien zur Planung von Unterrichts- und Betreuungsformen, angepasste Hygiene- und Schutzmaßnahmen in Schulen und Kitas, eine stärkere Versorgung psychischer Auswirkungen der Pandemie sowie Maßnahmen, die einer Stigmatisierung bei freiwilligem Tragen der Masken entgegenwirken.

Der Rat forderte zudem eine bundesweit bessere Datenbasis zum Infektionsgeschehen und zur Krankenhaus­auslastung. Nötig seien auch eine solide rechtliche Grundlage für Infektionsschutzmaßnahmen, eine zentrale Koordination der Pandemiemaßnahmen zwischen Bund und Ländern, eine bundesweit einheitliche und schnelle Kommunikation sowie ein besserer Zugang zu antiviralen Medikamenten.

Um die frühzeitige Behandlung mit antiviralen Medikamenten vor allem für immunsupprimierte Patienten oder Ältere besser zu ermöglichen, sei es wichtig, den ambulanten mit dem stationären Sektor stärker zu verzahnen, erklärte Christian Karagiannidis vom ECMO Zentrum Köln-Merheim, Universität Witten/Herden und wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes. Er kündigte eine gesonderte Stellungnahme des Corona-Expertenrats an, die sich mit genau dieser Frage beschäftigen soll.

Karagiannidis betonte zudem die Notwendigkeit, das Gesundheitssystem nicht nur für die nächsten sechs Monate zu stärken, sondern es nachhaltig für die kommenden Jahre und mögliche weitere Krisen im Gesundheitssystem besser aufzustellen.

Der Expertenrat, angesiedelt beim Bundeskanzleramt, hatte Mitte Dezember 2021 seine Arbeit aufgenommen. Dem Gremium gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen an.

cmk/kna

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