Medizin

Assistierte Reproduktion: Studie findet leicht erhöhtes Leukämierisiko im Kindesalter

  • Freitag, 17. Mai 2024
Mikroskopische Aufnahme akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL). /David A Litman, stock.adobe.com
Mikroskopische Aufnahme akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL). /David A Litman, stock.adobe.com

Paris – Kinder, die mit Hilfe einer assistierten Reproduktion gezeugt wurden, erkranken möglicherweise in den ersten Lebensjahren häufiger an einer Leukämie. Zu diesem Ergebnis kommen Mitarbeiter der französi­schen Arzneimittelbehörde ANSM in einer landesweiten Studie in JAMA Network Open (2024; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2024.9429).

Seit der Geburt von Louise Brown im Juli 1978 sind weltweit mehr als 10 Millionen Kinder durch eine assis­tierte Reproduktion gezeugt worden, wobei das Angebot der Kinderwunschkliniken neben der In-Vitro-Ferti­lisation (IVF) und der Variante ICSI (intrazytoplasmatische Spermieninjektion) auch die künstliche Besamung umfasst, die bereits vor Louise Brown möglich war. Bei der IVF werden zunehmend zuvor tiefgefrorene Em­bryonen verwendet, mit denen sich der Zeitpunkt der Behandlung besser planen lässt.

Zu den bekannten Folgen einer assistierten Reproduktion gehört eine erhöhte Rate von Frühgeburten. Paula Rios von der „Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé“ (ANSM) in Saint-Denis bei Paris und Mitarbeiter ermitteln in ihrer Analyse des französischen Geburtenregisters EPI-MERES, dass 17 % der Kinder nach einer assistierten Reproduktion vor der 37. Woche zur Welt kamen gegenüber 6,7 % nach natürlicher Zeugung. Außerdem waren 18,3 % versus 11,8 % der Kinder bei der Geburt zu klein für ihr Gestationsalter.

Auch die Rate von angeborenen Störungen war mit 4,1 % versus 3,1 % erhöht. Die wahrscheinlichste Erklä­rung ist das höhere Alter der Mütter, die die Dienste der Kinderwunschkliniken in Anspruch nehmen. In Frank­reich sind etwa 40 % über 35 Jahre alt, gegenüber nur etwa 20 % der Frauen, deren Kinder auf natürlichem Wege gezeugt wurden. Mit dem Alter der Mutter steigt das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen und das genetische Risiko der Kinder, die unter anderem häufiger mit einer Trisomie 21 geboren werden.

Seit einigen Jahren wird vermutet, dass die assistierte Reproduktion auch das Krebsrisiko der Kinder beein­flussen könnte. In den ersten Lebensjahren kommt es zu einer Häufung von Malignomen, deren Ursache in einer gestörten embryonalen Entwicklung vermutet wird. Könnten die Hormone, die zur Stimulierung des Ovars eingesetzt werden oder die Techniken der assistierten Reproduktion hier einen negativen Einfluss haben? Rios und Mitarbeiter haben hierzu die Daten des EPI-MERES-Registers mit dem französischen Krebsregister abgeglichen.

Von den 8,5 Millionen Kindern, die in den Jahren 2010 bis 2021 geboren wurden, erkrankten 9.256 später im mittleren Alter von 6,7 Jahren an Krebs. Darunter waren 292 Krebserkrankungen bei 260.236 Kindern, die nach assistierter Reproduktion geboren wurden.

Für die Gesamtzahl der Krebserkrankungen fand Rios keine statistisch signifikante Häufung. Einzige Ausnah­me war die akute lymphoblastische Leukämie (ALL), die häufigste Form von Blutkrebs im Kindesalter. An einer ALL erkrankten 20 Kinder, die aus einem kryokonservierten Embryo entstanden.

Im Vergleich zu den natürlich gezeugten Kindern ermittelt Rios einen Anstieg um 61 %, wobei die Hazard Ratio von 1,61 mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,04 bis 2,50 signifikant war. Für die Kinder, deren Embryo gleich nach der IVF übertragen wurde, und die Kinder, die nach eine künstliche Besamung entstanden, waren die Assoziationen nicht signifikant.

In einer 2. Analyse, die Rios auf Kinder beschränkte, die zwischen 2010 und 2015 geboren wurden und die deshalb häufiger das Alter erreicht hatten, in denen Leukämien auftreten, war ein Anstieg des Risikos bei Kindern nachweisbar, die nach einer IVF mit frischem Embryotransfer geboren wurden. Rios ermittelt hier eine Hazard Ratio von 1,42, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,06 bis 1,92 signifikant war.

Dass den Assoziationen eine Kausalität zugrunde liegt, dass also die IVF für die Leukämien verantwortlich ist, kann die Studie nicht beweisen. Rios konnte zwar eine Reihe von möglichen anderen potenziellen Risikofak­toren wie Geschlecht, Geburtsjahr, Mehrlingsgeburt, Alter der Mutter bei der Geburt und Deprivationsindex oder auch Schwangerschaftsdauer, Geburtsgewicht, Makrosomie und angeborene Fehlbildungen ausschlie­ßen.

Epidemiologische Analysen sind jedoch niemals perfekt. Die britischen Experten, die das Londoner Science Media Centre befragt hat, fiel es deshalb leicht, ein paar mögliche „Confounder“ zu nennen, die die Ergebnisse verzerrt haben könnten. Channa Jayasena vom Imperial College London vermisst die Berücksichtigung des Alters beider Elternteile. Mit zunehmendem Alter würden sich DNA-Mutationen und andere genetische Stö­rungen in den Keimzellen häufen, die auch das Leukämierisiko beeinflusst haben könnten.

Unberücksichtigt blieben wohl auch potenzielle peri- und postnatale Risikofaktoren für eine ALL. Dazu zählt Sir Mel Greaves vom Institute of Cancer Research (ICR) in London einen Kaiserschnitt, den Verzicht auf das Stillen oder auch das Fehlen älterer Geschwister. Der Pädiater Alastair Sutcliffe vom Great Ormond Street Institute of Child Health in London hält die Studie jedoch insgesamt für „zuverlässig und unvoreinge­nommen“.

Doch selbst wenn die assistierte Reproduktion das Leukämierisiko erhöhen sollte, wäre die Gefahr für die Kinder minimal. Nach der Pressemitteilung des ANSM käme es zu einer zusätzlichen Erkrankung auf 5.000 per assistierter Reproduktion gezeugter Kinder bis zum Alter von 10 Jahren.

rme

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