Bertelsmann-Studie kritisiert Zahl der Röntgenuntersuchungen bei Rückenschmerz
Gütersloh – Patienten mit Rückenschmerzen werden in Deutschland möglicherweise zu häufig und unnötig geröntgt. Das vermuten die Autoren einer neuen Bertelsmann-Studie aus der Reihe „Faktencheck“. Datengrundlage sind anonymisierte, repräsentative Daten von mehr als sieben Millionen Versicherten aus circa 70 gesetzlichen Krankenkassen. Ergänzend hat das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID eine repräsentative Befragung zum Thema Rückenschmerzen durchgeführt.
Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) warnte in einer ersten Stellungnahme vor einer zu groben Vereinfachung der Fakten. Es sei sehr problematisch, aus Krankenkassen-Routinedaten herauslesen zu wollen, dass bei Rückenschmerz zu viel geröntgt werde, sagte der stellvertretende DGOU-Generalsekretär Bernd Kladny.
Die Bedeutung einer fachkundigen Untersuchung bei Rückenschmerz und der anschließenden motivationalen Beratung zum Krankheitsbild betonte der Präsident des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), Johannes Flechtenmacher, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ).

Die Bertelsmann-Autoren weisen darauf hin, dass viele Patienten in Bezug auf die Diagnostik von Rückenschmerzen falsche Erwartungen hätten: Laut der Studie ist jeder Zweite (52 Prozent) überzeugt davon, dass man bei Rückenschmerzen immer einen Arzt aufsuchen sollte. 60 Prozent der Bevölkerung erwarten schnellstens eine bildgebende Untersuchung. Mehr als zwei von drei Personen (69 Prozent) sind der Meinung, dass der Arzt durch Röntgen-, Computertomografie- (CT) und Magnetresonanztomographie-Aufnahmen (MRT) die genaue Ursache des Schmerzes findet. Dies ist bekanntlich ein Trugschluss: „Ärzte können gerade einmal bei höchstens 15 Prozent der Betroffenen eine spezifische Ursache für den Schmerz feststellen“, heißt es im Bertelsmann-Faktencheck.

Die Studienautoren kritisieren, dass Ärzte die falschen Erwartungen der Patienten häufig nicht korrigierten. Das verursache sehr viele Arztbesuche und unnötige Bildgebung. Allein 2015 haben Ärzte laut Faktencheck über sechs Millionen Röntgen-, CT- und MRT-Aufnahmen des Rückens veranlasst. Bei 22 Prozent wurde eine Rückenaufnahme bereits im Quartal der Erstdiagnose angeordnet. Bei jedem zweiten Betroffenen wurde ein Bild veranlasst, ohne vorher einen konservativen Therapieversuch unternommen zu haben, zum Beispiel mit Schmerzmitteln oder Physiotherapie.
Dabei gibt es laut Studie erhebliche regionale Unterschiede im Verhalten von Betroffenen und Ärzten: Die Zahl der Behandlungsfälle pro 1.000 Versicherten und Jahr variiert danach auf Bundeslandebene zwischen 370 in Hamburg und 509 in Berlin. Auf Kreisebene gibt es Unterschiede um mehr als das Doppelte: So betrug die durchschnittliche Anzahl von Behandlungsfällen je 1.000 Versicherten in den Jahren 2009 bis 2015 in den Kreisen Ostprignitz-Ruppin und Rotenburg/Wümme 306, im Werra-Meißner-Kreis dagegen 711 und in Dingolfing-Landau sogar 730 Fälle. Auch Ärzte agierten regional sehr unterschiedlich: Zwischen den Bundesländern variierten die Verordnungen von Röntgen-, CT-, und MRT-Aufnahmen um bis zu 30 Prozent.

„Der Verdacht auf spezifischen Kreuzschmerz führt zur Veranlassung einer Bildgebung, in der sich dieser Verdacht vielfach nicht bestätigt“, erläuterte Kladny. Ärzte hätten diese Bildgebung zum Beweis oder Ausschluss der Erkrankung durchgeführt. Verschlüsselt werde anschließend aber nicht der Verdacht, der zur Bildgebung führte, sondern die Diagnose „nicht-spezifischer Kreuzschmerz“, wenn in der Bildgebung eine ernsthafte gravierende Ursache ausgeschlossen werden konnte, so der DGOU-Generalsekretär.
Er betonte, die Fachgesellschaft habe an der einschlägigen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz und deren Aktualisierung mitgearbeitet und trage diese voll mit. „Allerdings ermöglicht der in Abrechnungsangelegenheiten verwendete ICD 10 nicht die Unterscheidung zwischen akutem, subakutem und chronischem sowie rezidivierenden Kreuzschmerz. Damit ist eine Überprüfung der Einhaltung der Leitlinie nur äußerst eingeschränkt möglich“, so Kladny.
„Ärzte müssen falsche Kenntnisse und Erwartungen von Patienten korrigieren. Nur so werden sie ihrem eigenen Anspruch als vertrauenswürdige Experten gerecht“, forderte Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.
Die gründliche körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssten wieder mehr Gewicht erhalten: „Dafür bedarf es Korrekturen im ärztlichen Vergütungssystem. So müssen Gespräche im Verhältnis zu technikbasierten Untersuchungen besser bezahlt werden“, sagte Mohn.
Flechtenmacher wies gegenüber dem DÄ daraufhin, dass ein solches Modell bereits existiere: Der Facharztvertrag Orthopädie mit der AOK Baden-Württemberg lege besonderes Gewicht auf die körperliche Untersuchung und die ausführliche Beratung des Patienten. „Und dies mit großem Erfolg“, so Flechtenmacher.
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