Politik

Bertelsmann-Studie kritisiert Zahl der Röntgenunter­suchungen bei Rückenschmerz

  • Dienstag, 22. November 2016

Gütersloh – Patienten mit Rückenschmerzen werden in Deutschland möglicherweise zu häufig und unnötig geröntgt. Das vermuten die Autoren einer neuen Bertelsmann-Studie aus der Reihe „Faktencheck“. Datengrundlage sind anonymisierte, repräsentative Daten von mehr als sieben Millionen Versicherten aus circa 70 gesetzlichen Krankenkassen. Er­gänzend hat das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID eine repräsentative Befra­gung zum Thema Rückenschmerzen durchgeführt.

Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) warnte in einer ers­ten Stellungnahme vor einer zu groben Vereinfachung der Fakten. Es sei sehr proble­matisch, aus Krankenkassen-Routinedaten herauslesen zu wollen, dass bei Rücken­schmerz zu viel geröntgt werde, sagte der stellvertretende DGOU-General­sekretär Bernd Kladny.

Die Bedeutung einer fachkundigen Untersuchung bei Rückenschmerz und der an­schlie­ßen­den motivationalen Beratung zum Krankheitsbild betonte der Präsident des Berufs­ver­bandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), Johannes Flechtenmacher, ge­genüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ).

Uploaded: 22.11.2016 16:19:23 by lode
Meinungen zu Rückenschmer­zen /Bertelsmann Stiftung

Die Bertelsmann-Autoren weisen darauf hin, dass viele Patienten in Bezug auf die Diagnostik von Rücken­schmerzen falsche Erwartungen hätten: Laut der Studie ist jeder Zweite (52 Prozent) überzeugt davon, dass man bei Rückenschmerzen immer einen Arzt auf­suchen sollte. 60 Prozent der Bevölkerung erwarten schnells­tens eine bild­gebende Untersuchung. Mehr als zwei von drei Personen (69 Prozent) sind der Meinung, dass der Arzt durch Röntgen-, Computertomografie- (CT) und Magnet­resonanztomographie-Aufnahmen (MRT) die genaue Ursache des Schmerzes findet. Dies ist bekanntlich ein Trugschluss: „Ärzte können gerade einmal bei höchstens 15 Prozent der Betroffenen eine spezifische Ursache für den Schmerz feststellen“, heißt es im Bertelsmann-Faktencheck.

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Regionale Verteilung der Röntgen-, CT- und MRT-Aufnahmen /Bertelsmann Stiftung

Die Studienautoren kritisieren, dass Ärzte die falschen Erwartungen der Patienten häufig nicht korrigierten. Das verursache sehr viele Arztbesuche und unnötige Bildgebung. Allein 2015 haben Ärzte laut Fak­ten­check über sechs Millionen Röntgen-, CT- und MRT-Auf­nah­men des Rückens veranlasst. Bei 22 Pro­zent wurde eine Rückenaufnahme bereits im Quartal der Erst­diag­nose angeordnet. Bei jedem zweiten Be­troffenen wurde ein Bild veranlasst, ohne vorher einen konservativen Therapieversuch unternommen zu ha­ben, zum Beispiel mit Schmerzmitteln oder Physio­the­rapie.

Dabei gibt es laut Studie erhebliche regionale Un­ter­schiede im Verhalten von Betroffenen und Ärzten: Die Zahl der Behandlungsfälle pro 1.000 Versicherten und Jahr variiert danach auf Bundeslandebene zwischen 370 in Hamburg und 509 in Berlin. Auf Kreisebene gibt es Unterschiede um mehr als das Doppelte: So betrug die durch­schnitt­liche Anzahl von Behandlungsfällen je 1.000 Ver­si­cherten in den Jahren 2009 bis 2015 in den Kreisen Ostprignitz-Ruppin und Rotenburg/­Wüm­me 306, im Werra-Meiß­ner-Kreis dagegen 711 und in Dingolfing-Landau sogar 730 Fälle. Auch Ärzte agierten regional sehr unterschiedlich: Zwischen den Bundesländern variierten die Verordnungen von Röntgen-, CT-, und MRT-Aufnahmen um bis zu 30 Pro­zent.

Uploaded: 22.11.2016 16:23:53 by lode
Ambulante Behandlungsfälle 2009–2015 /Bertelsmann Stiftung

„Der Verdacht auf spezifischen Kreuzschmerz führt zur Veranlassung einer Bildgebung, in der sich dieser Ver­dacht vielfach nicht bestätigt“, erläuterte Kladny. Ärzte hätten diese Bildgebung zum Beweis oder Ausschluss der Erkrankung durchgeführt. Verschlüsselt werde an­schließend aber nicht der Verdacht, der zur Bildgebung führte, sondern die Diagnose „nicht-spezifischer Kreuz­schmerz“, wenn in der Bildgebung eine ernsthafte gra­vierende Ursache ausgeschlossen werden konnte, so der DGOU-Generalsekretär.

Er betonte, die Fachge­sell­schaft habe an der ein­schlä­gigen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz und deren Ak­tualisierung mitgearbeitet und trage diese voll mit. „Allerdings ermöglicht der in Abrechnungs­angelegen­heiten verwendete ICD 10 nicht die Unterscheidung zwischen akutem, subakutem und chronischem sowie rezidivierenden Kreuzschmerz. Damit ist eine Überprüfung der Ein­hal­tung der Leitlinie nur äußerst eingeschränkt möglich“, so Kladny.

„Ärzte müssen falsche Kenntnisse und Erwartungen von Patienten korrigieren. Nur so werden sie ihrem eigenen Anspruch als vertrauenswürdige Experten gerecht“, forderte Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Die gründliche körperliche Unter­suchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssten wieder mehr Gewicht erhalten: „Dafür bedarf es Korrekturen im ärzt­lichen Vergütungssystem. So müssen Gespräche im Verhältnis zu technikbasierten Untersuchungen besser bezahlt werden“, sagte Mohn.

Flechtenmacher wies gegenüber dem daraufhin, dass ein solches Modell bereits exis­tiere: Der Facharztvertrag Orthopädie mit der AOK Baden-Württemberg lege beson­deres Gewicht auf die körperliche Untersuchung und die ausführliche Beratung des Pa­tienten. „Und dies mit großem Erfolg“, so Flechtenmacher.

hil

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