Politik

Bundesregierung schlägt massive Einschränkungen im Alltag vor

  • Mittwoch, 28. Oktober 2020
/picture alliance, Fotostand
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Berlin – Die Bundesregierung will mit drastischen Kontaktbeschränkungen die massiv steigenden Infektionszahlen mit SARS-CoV-2 in den Griff bekommen. Bundesweit sollen Freizeiteinrichtungen und Gastronomie geschlossen, Unterhaltungsveranstaltungen ver­boten und Kontakte in der Öffentlichkeit sowie Feiern auf Plätzen und in Wohnungen eingeschränkt werden.

Das geht aus einem Entwurf der Beschlussvorlage des Bundes für die Videokonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten hervor.

Das Treffen soll heute um 13 Uhr beginnen. Es wird mit langen und komplizierten Ge­sprächen gerechnet. Beim vergangenen Treffen gingen die Beratungen bis in den späten Abend hinein. Vor den Beratungen von Merkel mit den Länderchefs wollen sich die Ministerprä­sidenten diesmal aber um 10.30 Uhr zu Vorgesprächen zusammenschalten.

Die Maßnahmen sollen nach dem Willen der Bundesregierung ab dem 4. November deutschlandweit in Kraft treten und bis Ende des Monats gelten. Nach Ablauf von zwei Wochen sollen Kanzlerin und Länderchefs die erreichten Ziele beurteilen und notwendi­ge Anpassungen vornehmen.

„Familien und Freunde sollen sich auch unter Coronabedingungen in der Weihnachtszeit treffen können. Dazu bedarf es jetzt erneut, wie schon im Frühjahr, einer gemeinsamen Anstrengung“, heißt es in dem Papier. Viele geplante Maßnahmen gleichen den Ein­schrän­kungen, die es bereits im Frühjahr während der ersten Coronawelle gegeben hat.

Bei dem Papier handelt es sich um Wünsche der Bundesebene. Was die Länder davon halten – und ob diese die gefassten Beschlüsse am Ende umsetzen, ist wie schon nach den vergangenen Treffen vollkommen offen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat eine Zustimmung seiner Regie­rung zu einem derartigen Beschluss bereits ausgeschlossen. Andere Länder hatten dage­gen schon vor dem virtuellen Treffen Verschärfungen angekündigt.

Die geplanten Maßnahmen im Einzelnen:

Öffentlichkeit, Feiern: Nur noch Angehörige des eigenen und eines weiteren Hausstandes sollen sich gemeinsam in der Öffentlichkeit aufhalten dürfen. Verstöße gegen diese Kon­taktbeschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden sanktioniert werden. Gruppen fei­ernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtun­gen seien angesichts der ernsten Lage inakzeptabel.

Schulen und Kindergärten: Diese Einrichtungen sollen offen bleiben. Die Länder sollten aber weitere Schutzmaßnahmen einführen.

Einzelhandel: Einzelhandelsgeschäfte sollen unter Auflagen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Vermeidung von Warteschlangen insgesamt geöffnet bleiben. Es müsse aber sichergestellt werden, dass sich in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro 25 Quadratmeter aufhalte.

Unterhaltungsveranstaltungen: Theater, Opern oder Konzerthäuser sollen schließen. Dies gilt auch für Messen, Kinos, Freizeitparks, Spielhallen, Spielbanken und Wettannahmeein­richtungen. Auch Bordelle und andere Prostitutionsstätten sollen geschlossen werden.

Sport: Freizeit- und Amateursportbetriebe sollen auf und in allen öffentlichen und pri­va­ten Sportanlagen geschlossen werden, ebenso Schwimm- und Spaßbäder sowie Fitness­studios. Über Spiele der oberen Fußballligen wird in dem Papier nichts Konkretes gesagt.

Gastronomie und Hotels: Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen sollen geschlossen werden. Ausgenommen werden sollen die Lieferung und Abholung von Speisen für den Verzehr zu Hause. Touristische Übernachtungsangebote im Inland sollen untersagt werden. Angebote sollten nur noch für notwendige Zwecke gemacht wer­den. Die Bürger werden aufgefordert, auf private Reisen und auf Verwandten­besuche zu verzichten.

Körperpflege: Kosmetikstudios, Massagepraxen oder Tattoostudios sollen schließen, me­di­zinisch notwendige Behandlungen wie Physiotherapien aber möglich sein. Friseursa­lons bleiben – anders als im Frühjahr – aber unter den bestehenden Hygienevorgaben geöffnet.

Wirtschaft: Industrie, Handwerk und Mittelstand solle sicheres Arbeiten umfassend er­möglicht werden, heißt es im Entwurf. Die Arbeitgeber müssten ihre Mitarbeiter vor In­fektionen schützen. Wo immer umsetzbar soll Heimarbeit ermöglicht werden.

Hilfe für Unternehmen: Der Bund will Hilfen verlängern und die Konditionen etwa für die Kultur- und Veranstaltungswirtschaft verbessern. Außerdem soll der Schnellkredit der staatseigenen KfW Bankengruppe für Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten geöffnet und angepasst werden.

Risikogruppen: Für Kranke, Pflegebedürftige, Senioren und Behinderte solle es zügig und prioritär Coronaschnelltests geben. Der besondere Schutz in diesem Bereich dürfe aber nicht zu einer vollständigen sozialen Isolation führen.

Kontrollen: Zur Einhaltung der Maßnahmen sollen flächendeckend die Kontrollen ver­stärkt werden. Zudem sollen Bund und Länder Bürgerinnen und Bürger verstärkt über die Coronamaßnahmen informieren „und durch möglichst einheitliche Maßnahmen die Über­sichtlichkeit erhöhen“, heißt es in dem Papier.

An dem Papier gab es im Vorfeld der Beratungen bereits Kritik. FDP-Partei- und -Frakti­onschef Christian Lindner twitterte, die Kanzlerin wolle „unter an­derem die Gastronomie komplett still legen. Das hielte ich für unnötig und deshalb auch für verfassungswidrig.“

Der Präsident des Bundesverband mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven sagte: „Der überwiegende Teil des Mittelstands verkraftet keinen weiteren Lockdown. Für Zehntau­sende Unternehmen käme dies einem Todesstoß gleich.“

„Sicherheit und Gesundheit haben die nächsten Wochen oberste Priorität. Bei den anstehenden Maßnahmen müssen wir aber auch die Auswirkungen auf die betroffenen Unternehmen bedenken“, betonte der Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung, Thomas Bareiß.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sagte hingegen: „Wir müssen die Dynamik des Virus aufhalten und mit vereinten Kräften alle notwendigen Maßnahmen ergreifen.“

Unterstützung für drastische Einschränkungen kam bereits gestern aus der Wissenschaft. Die Deutsche Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina und fünf andere Forschungs­gemeinschaften hatten am eine drastische Reduzierung von sozialen Kontakten in der Krise gefordert.

Notwendig sei angesichts steigender Infektionszahlen eine Verringerung der Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel, nach bundesweit einheitlichen Regeln, heißt es in der Erklärung von Leopoldina, Deutscher Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Ge­sellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft. Gemeint sind damit Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichts­maß­nahmen stattfinden.

Nach drei Wochen einer entsprechenden Senkung der Kontakte sei es entscheidend, die dann erreichte niedrige Fallzahl mit bundeseinheitlichen und konsequent verfolgten Schutzmaßnahmen zu halten. Derzeit sei der Anstieg der Infektionszahlen in vielen Orten Deutschlands nicht mehr kontrollierbar.

„Je früher eine konsequente Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen erfolgt, desto kürzer können diese andauern und desto weniger psychische, soziale und wirtschaft­li­che Kollateralschäden werden diese verursachen“, so die Forschungsgemein­schaften.

Auch der Virologe Christian Drosten sieht einen zeitlich begrenzten Lockdown bei hohen In­fektionszahlen als sinnvoll an. „Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss man 'ne Pause einlegen“, sagte der Charité-Wissenschaftler gestern im Podcast „Coronavirus-Up­date“ von NDR-Info. „Dieses Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Dieses Virus erzwingt bei einer bestimmten Fallzahl einfach einen Lockdown.“

Momentan sei die Inzidenz in Deutschland noch vergleichsweise niedrig. „Wenn wir jetzt einmal auf die Bremse treten würden, dann hätte das einen ganz nachhaltigen Effekt. Das würde uns ganz viel Zeit einspielen.“ Etwa drei Wochen – etwas mehr als eine Quarantä­nezeit brauche man aus Sicht des Wissenschaftlers dafür. „Die Inzidenz ist danach erheb­lich gesenkt und ist dann auch unter bestimmten Umständen auf lange Frist gesenkt.“

dpa/may

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