COVID-19-Pandemie: Folgen für die onkologische kolorektale Chirurgie

Berlin – OP-Kapazitätsbeschränkungen zur Vorhaltung von Intensivkapazitäten für Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion nehmen Einfluss auf die kolorektale Chirurgie in Deutschland – auch bei onkologischen Patienten. Laut einer aktuellen deutschlandweiten Umfrage sind 95 Prozent der Chirurgen in Deutschland der Meinung, dass die onkologische kolorektale Chirurgie trotz COVID-19-Pandemie nicht kompromittiert werden darf.
Die COVID19-Pandemie hat zu einschneidenden Veränderungen im deutschen Gesundheitssystem geführt, insbesondere auch in den chirurgischen Fachdisziplinen. Zur Erweiterung und Vorhaltung von Intensivkapazitäten wurde die OP-Kapazität in deutschen Krankenhäusern teilweise drastisch reduziert, damit zum einen Personal für die Intensivstationen mobilisiert werden konnte und zum anderen weniger postoperative Patienten mit Intensivpflichtigkeit anfallen.
Zwar wurden primär vor allem elektive nicht-onkologische Eingriffe nicht mehr durchgeführt, allerdings sind auch immer häufiger onkologische Patienten von den Kapazitätsrestriktionen im OP betroffen. Verzögerungen in der Therapie von Patienten mit kolorektalen Karzinom können zu einer Verschlechterung der Überlebensraten dieser Patienten führen. Bisher sind die Auswirkungen der aktuellen Maßnahmen auf die onkologische kolorektale Chirurgie in Deutschland nicht bekannt.
Deutschlandweite Umfrage
Zur Bestandsaufnahme der aktuellen Versorgungslage von onkologischen kolorektalen Patienten in Deutschland während der COVID-19-Pandemie wurde eine Online-Umfrage initiiert. Hierzu wurden über den E-Mail-Verteiler der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Darmkrebszentren (ADDZ) etwa 282 deutsche chirurgische Kliniken eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. Die Teilnahme war vom 11.4.2020 bis zum 19.4.2020 möglich.
Im Rahmen der Umfrage wurden insbesondere der Ist-Zustand der chirurgischen Versorgungslage onkologischer kolorektaler Patienten zum aktuellen Zeitpunkt und die Meinung deutscher chirurgischer Darmkrebsspezialisten zu möglichen Maßnahmen und Therapieanpassungen zur Optimierung der chirurgischen Kapazitäten für onkologische kolorektale Patienten während der COVID-19-Pandemie evaluiert.
Insgesamt haben 112 chirurgische kolorektale Spezialisten aus 101 deutschen Kliniken an der Umfrage teilgenommen – darunter 24 Universitätskliniken, 18 nicht-universitäre Kliniken der Maximalversorgung sowie 59 weitere Kliniken (meist mit kolorektalem Schwerpunkt).
Die meisten teilnehmenden Kliniken stammten aus Nordrhein-Westfahlen (27), Bayern (19) und Baden-Württemberg (13) und damit aus Bundesländern mit einer Fallzahl an COVID-19-Pateinten von über 150 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Die mittlere Fallzahl an kolorektalen Eingriffen der teilnehmenden Kliniken lag bei 127 Fällen pro Jahr.
Relevante OP-Kapazitätseinschränkungen
87 Prozent der teilnehmenden Kliniken mussten zum Umfragezeitpunkt aufgrund der COVID-19-Pandemie ihre OP-Kapazität einschränken – der Großteil (74 Prozent) davon auf 20-60 Prozent der üblichen Kapazitäten (Abb. 1a).
Bezüglich nicht onkologischer viszeralchirurgischer Eingriffe wurden daher in über 95 Prozent der Kliniken nur noch Notfälle oder symptomatische Patienten operiert. Hinsichtlich onkologischer kolorektaler Eingriffe kam es immerhin bei 34 Prozent der teilnehmenden Kliniken zu Einschränkungen (Abb. 1b).

Dabei lagen sowohl für die Gesamt-OP-Kapazitätseinschränkungen als auch für die OP-Kapazitätseinschränkungen für onkologische kolorektale Eingriffe keine Unterschiede zwischen Maximalversorgern und anderen Krankenhäusern sowie Kliniken in Bundesländern mit hoher oder niedriger Fallzahl an COVID-19-Patienten vor.
Der Großteil (78 Prozent) der befragten Kolorektalchirurgen gab an, dass sie Einschränkungen der OP-Kapazitäten nur gerechtfertigt finden, solange die Versorgung onkologischer Patienten garantiert ist. Für 16 Prozent der Befragten sind die Einschränkungen der OP-Kapazität ungerechtfertigt.
Die Umfrage zeigte weitere Folgen der COVID-19-Pandemie auf: 45 Prozent der Kliniken leiden unter einem Mangel an Schutzmaterialen (Masken, Kittel), wobei der Mangel bei Kliniken der Maximalversorgung signifikant geringer ausfällt. 8 Prozent der Kliniken weisen sogar einen Mangel an OP-Materialien wie Klammernahtgeräte auf.
Einfluss auf die Struktur der Versorgungsqualität
Die derzeitigen Einschränkungen haben direkte Alltagskonsequenzen auf die organisatorische Versorgungsstruktur in den zertifizierten Darmkrebszentren. Onkologische Tumorboards werden in 70 Prozent der Kliniken mit geringerer personeller Besetzung und in 39 Prozent der Kliniken nur noch per Videokonferenz durchgeführt (Abb. 2).

Etwa zwei Drittel aller befragten Kolorektalchirurgen (69 Prozent) halten die für die deutschen Krankenhäuser getroffenen Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie für angemessen, allerdings auch etwa ein Drittel (31 Prozent) für zu viel. Im Vergleich werden die Maßnahmen im gesellschaftlichen Leben, wie beispielsweise Ausgangssperren, von 81 Prozent der Befragten als angemessen bewertet, von 15 Prozent als zu viel und von 4 Prozent als zu wenig (Abb. 3).

Umgang mit COVID-19-Patienten
94 Prozent der chirurgischen Kliniken operieren chirurgische Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion an Ihrer Klinik, lediglich 6 Prozent verlegen diese in spezialisierte Zentren. Ein präoperativer Test auf COVID-19 wird in 20 Prozent der Kliniken standardmäßig durchgeführt, während 50 Prozent der Kliniken nur bei Symptomen testen und 31 Prozent keine strukturierten präoperativen COVID-19-Tests durchführen. Die bevorzugte Testmethode ist der Nachweis von SARS-CoV-2 mittels PCR, lediglich eine Klinik führt zur COVID-19-Detektion ein CT-Thorax durch.
Potentielle Änderungen vom Standardvorgehen für kolorektale Patienten zur Beherrschung der relevanten Kapazitätseinschränkungen während der COVID-19-Pandemie werden kritisch gesehen: 95 Prozent der befragten Chirurgen gaben an, dass alle onkologischen kolorektalen Patienten mit Indikation zur Operation trotz aktueller Vorhaltungen für COVID-19-Patienten zeitgerecht eine Operation erhalten sollten (Abb. 4a).
Hierbei war für den Großteil der Befragten (63 Prozent bzw. 51 Prozent) eine verlängerte Wartezeit zur OP von bis zu 2 Wochen bei nicht-metastasierten bzw. metastasierten Patienten akzeptabel, wohingegen 37 Prozent bzw. 49 Prozent keine zusätzliche Wartezeit für onkologische kolorektale Patienten aufgrund von COVID-Maßnahmen für angemessen halten (Abb. 4b).

Eine Selektionierung der onkologischen Patienten anhand von Alter, Komorbiditäten oder gar Prognose im Rahmen von Kapazitätseinschränkungen sollte laut der Mehrheit der Befragten (63 Prozent bzw. 55 Prozent) nicht erfolgen.
Eine neoadjuvante Radiochemotherapie von kolorektalen Karzinompatienten mit Indikation zur Resektion (Tumorstadium: T1-2 N0 M0), eine bevorzugte systemische Therapie von metastasierten Patienten mit Indikation zur OP und eine bevorzugte interventionelle Therapie von resektablen kolorektalen Lebermetastasen wurden als mögliche alternative Therapieoptionen von einer Mehrheit von jeweils über 90 Prozent deutlich abgelehnt.
Ebenso sieht die Mehrheit der Befragten (81 Prozent bzw. 63 Prozent) zum aktuellen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, alle kolorektalen Eingriffe unter spezieller Schutzausrüstung durchzuführen oder die Ausbildung von jungen kolorektalen Chirurgen zur Optimierung der OP-Kapazitäten einzuschränken.
Keine klaren Mehrheiten bestanden allerdings hinsichtlich der Fragen, ob alle Patienten vor einem kolorektalen Eingriff standardmäßig auf COVID-19 getestet werden sollten (Zustimmung 51 Prozent gegenüber Ablehnung 38 Prozent), ob auf den Einsatz eines OP-Roboters zur OP-Kapazitätsoptimierung zum aktuellen Zeitpunkt verzichtet werden sollte (Zustimmung 30 Prozent gegenüber Ablehnung 52 Prozent) und ob kolorektale Chirurgen zum aktuellen Zeitpunkt für die direkte intensivmedizinische Patientenversorgung von COVID-19-Patienten rekrutiert werden sollten (Zustimmung 36 Prozent gegenüber Ablehnung 43 Prozent).
In Bundesländern mit einer COVID-19-Fallzahl von mehr als 150 Patienten pro 100.000 Einwohnern (Bayern, Baden-Württemberg, Saarland, Hamburg und Nordrhein-Westfahlen (Stand 20.04.2020)) wurde hierbei der Einsatz von Kolorektalchirurgen in der Versorgung von COVID-19-Patienten signifikant häufiger bejaht (Zustimmung 54 Prozent gegenüber 29 Prozent in Bundesländern mit geringer COVID-19-Fallzahl).
Ein weiteres strittiges Thema ist die operative Versorgung von COVID-19-Patienten in spezialisierten Zentren (Zustimmung 43 Prozent gegenüber Ablehnung 52 Prozent). Während Kliniken der Maximalversorgung dies zu 67 Prozent befürworteten, lag die Zustimmung bei allen anderen Kliniken mit 24 Prozent gering.
Gleichbehandlung der Patienten
Diese deutschlandweite Umfrage erfasst erstmals die aktuelle Versorgungslage onkologischer kolorektaler Patienten während der COVID-19-Pandemie: OP-Kapazitätsbeschränkungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie betreffen in 34 Prozent der Kliniken auch onkologische kolorektale Resektionen und sind damit relevant.
Diese Tatsache wird allerdings von der Mehrheit der befragten Chirurgen als kritisch gesehen. Bezüglich der Therapie onkologischer kolorektaler Patienten während der COVID-19-Pandemie plädiert die Mehrheit der befragten deutschen Chirurgen für zeitgerechte Operationen mit einer maximalen Verlängerung der Wartezeit von zwei Wochen sowie für das Einhalten des leitliniengerechten Standardvorgehens.
Grundsätzlich ist in einem ethischen Diskurs zu hinterfragen, wieviel potentielle Prognoseverschlechterung onkologischer Patienten für die Kapazitätsvorhaltung von im Wesentlichen noch nicht eingetretenen Erkrankungsfällen einer anderen Entität in einem hoch entwickelten Industrieland gerechtfertigt ist.
Autoren: Dr. Maximilian Brunner, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Universitätsklinikum Erlangen, Prof. Dr. Benno Stinner, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Elbe Kliniken Stade, Prof. Dr. Stefan R. Benz, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie, Kliniken Böblingen, Prof. Dr. Robert Grützmann, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Universitätsklinikum Erlangen
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