Ärzteschaft

COVID-19-Pandemie: Folgen für die onkologische kolorektale Chirurgie

  • Samstag, 2. Mai 2020
Dickdarm mit Karzinom /Kateryna_Kon, stock.adobe.com
/Kateryna_Kon, stock.adobe.com

Berlin – OP-Kapazitätsbeschränkungen zur Vorhaltung von Intensivkapazitäten für Patien­ten mit SARS-CoV-2-Infektion nehmen Einfluss auf die kolorektale Chirurgie in Deutschland – auch bei onkologischen Patienten. Laut einer aktuellen deutschlandwei­ten Umfrage sind 95 Prozent der Chirurgen in Deutschland der Meinung, dass die onkolo­gische kolorektale Chirurgie trotz COVID-19-Pandemie nicht kompromittiert werden darf.

Die COVID19-Pandemie hat zu einschneidenden Veränderungen im deutschen Gesund­heitssystem geführt, insbesondere auch in den chirurgischen Fachdisziplinen. Zur Erwei­terung und Vorhaltung von Intensivkapazitäten wurde die OP-Kapazität in deutschen Krankenhäusern teilweise drastisch reduziert, damit zum einen Personal für die Intensiv­stationen mobilisiert werden konnte und zum anderen weniger postoperative Patienten mit Intensivpflichtigkeit anfallen.

Zwar wurden primär vor allem elektive nicht-onkologische Eingriffe nicht mehr durchge­führt, allerdings sind auch immer häufiger onkologische Patienten von den Kapazitätsres­triktionen im OP betroffen. Verzögerungen in der Therapie von Patienten mit kolorektalen Karzinom können zu einer Verschlechterung der Überlebensraten dieser Patienten führen. Bisher sind die Auswirkungen der aktuellen Maßnahmen auf die onkologische kolorektale Chirurgie in Deutschland nicht bekannt.

Deutschlandweite Umfrage

Zur Bestandsaufnahme der aktuellen Versorgungslage von onkologischen kolorektalen Patienten in Deutschland während der COVID-19-Pandemie wurde eine Online-Umfrage initiiert. Hierzu wurden über den E-Mail-Verteiler der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Darmkrebszentren (ADDZ) etwa 282 deutsche chirurgische Kliniken eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. Die Teilnahme war vom 11.4.2020 bis zum 19.4.2020 möglich.

Im Rahmen der Umfrage wurden insbesondere der Ist-Zustand der chirurgischen Versor­gungslage onkologischer kolorektaler Patienten zum aktuellen Zeitpunkt und die Mei­nung deutscher chirurgischer Darmkrebsspezialisten zu möglichen Maßnahmen und Therapieanpassungen zur Optimierung der chirurgischen Kapazitäten für onkologische kolorektale Patienten während der COVID-19-Pandemie evaluiert.

Insgesamt haben 112 chirurgische kolorektale Spezialisten aus 101 deutschen Kliniken an der Umfrage teilgenommen – darunter 24 Universitätskliniken, 18 nicht-universitäre Kliniken der Maximalversorgung sowie 59 weitere Kliniken (meist mit kolorektalem Schwerpunkt).

Die meisten teilnehmenden Kliniken stammten aus Nordrhein-Westfahlen (27), Bayern (19) und Baden-Württemberg (13) und damit aus Bundesländern mit einer Fallzahl an COVID-19-Pateinten von über 150 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Die mittlere Fallzahl an kolorektalen Eingriffen der teilnehmenden Kliniken lag bei 127 Fällen pro Jahr.

Relevante OP-Kapazitätseinschränkungen

87 Prozent der teilnehmenden Kliniken mussten zum Umfragezeitpunkt aufgrund der COVID-19-Pandemie ihre OP-Kapazität einschränken – der Großteil (74 Prozent) davon auf 20-60 Prozent der üblichen Kapazitäten (Abb. 1a).

Bezüglich nicht onkologischer viszeralchirurgischer Eingriffe wurden daher in über 95 Pro­zent der Kliniken nur noch Notfälle oder symptomatische Patienten operiert. Hinsicht­lich onkologischer kolorektaler Eingriffe kam es immerhin bei 34 Prozent der teilnehmen­den Kliniken zu Einschränkungen (Abb. 1b).

Grafik1
Abb. 1

Dabei lagen sowohl für die Gesamt-OP-Kapazitätsein­schrän­kungen als auch für die OP-Kapazitätseinschrän­kungen für onkologische kolorektale Eingriffe keine Un­terschiede zwischen Maximalversorgern und anderen Krankenhäusern sowie Kliniken in Bundes­ländern mit hoher oder niedriger Fallzahl an COVID-19-Patienten vor.

Der Großteil (78 Prozent) der befragten Kolorektalchi­rur­gen gab an, dass sie Einschrän­kun­gen der OP-Kapa­zitäten nur gerechtfertigt finden, solange die Versorgung onkologi­scher Patienten garan­tiert ist. Für 16 Prozent der Befragten sind die Einschränkungen der OP-Kapazität unge­rechtfertigt.

Die Umfrage zeigte weitere Folgen der COVID-19-Pandemie auf: 45 Prozent der Kliniken leiden unter einem Mangel an Schutzmaterialen (Masken, Kittel), wobei der Mangel bei Kliniken der Maximalversorgung signifikant geringer ausfällt. 8 Prozent der Kliniken weisen sogar einen Mangel an OP-Materialien wie Klammernahtgeräte auf.

Einfluss auf die Struktur der Versorgungsqualität

Die derzeitigen Einschränkungen haben direkte Alltagskonsequenzen auf die organisato­ri­sche Versorgungsstruktur in den zertifizierten Darmkrebszentren. Onkologische Tumor­boards werden in 70 Prozent der Kliniken mit geringerer personeller Besetzung und in 39 Prozent der Kliniken nur noch per Videokonferenz durchgeführt (Abb. 2).

Grafik2
Abb. 2

Etwa zwei Drittel aller befragten Kolorektalchirurgen (69 Prozent) halten die für die deutschen Krankenhäuser getroffenen Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie für angemessen, allerdings auch etwa ein Drittel (31 Prozent) für zu viel. Im Vergleich wer­den die Maßnahmen im gesellschaftlichen Leben, wie beispielsweise Ausgangssperren, von 81 Prozent der Befragten als angemessen bewertet, von 15 Prozent als zu viel und von 4 Prozent als zu wenig (Abb. 3).

Grafik3
Abb. 3

Umgang mit COVID-19-Patienten

94 Prozent der chirurgischen Kliniken operieren chirur­gische Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion an Ihrer Kli­nik, lediglich 6 Prozent verlegen diese in spezialisierte Zentren. Ein präoperativer Test auf COVID-19 wird in 20 Prozent der Kliniken standardmäßig durchge­führt, während 50 Pro­zent der Kliniken nur bei Symptomen testen und 31 Prozent keine strukturierten präope­rativen COVID-19-Tests durchführen. Die bevorzugte Testmethode ist der Nachweis von SARS-CoV-2 mittels PCR, lediglich eine Klinik führt zur COVID-19-Detektion ein CT-Tho­rax durch.

Potentielle Änderungen vom Standardvorgehen für kolorektale Patienten zur Beherr­schung der relevanten Kapazitätseinschränkungen während der COVID-19-Pandemie wer­den kritisch gesehen: 95 Prozent der befragten Chirurgen gaben an, dass alle onkologi­schen kolorektalen Patienten mit Indikation zur Operation trotz aktueller Vorhaltungen für COVID-19-Patienten zeitgerecht eine Operation erhalten sollten (Abb. 4a).

Hierbei war für den Großteil der Befragten (63 Prozent bzw. 51 Prozent) eine verlängerte Wartezeit zur OP von bis zu 2 Wochen bei nicht-metastasierten bzw. metastasierten Patienten akzeptabel, wohingegen 37 Prozent bzw. 49 Prozent keine zusätzliche Wartezeit für onkologische kolorektale Patienten aufgrund von COVID-Maßnahmen für angemessen halten (Abb. 4b).

Grafik4
Abb. 4

Eine Selektionierung der onkologischen Patienten an­hand von Alter, Komorbiditäten oder gar Prognose im Rahmen von Kapazitätseinschränkungen sollte laut der Mehrheit der Befragten (63 Prozent bzw. 55 Prozent) nicht erfolgen.

Eine neoadjuvante Radiochemo­therapie von kolorekta­len Karzinompatienten mit Indika­tion zur Resektion (Tumorstadi­um: T1-2 N0 M0), eine bevorzugte systemi­sche Therapie von metastasierten Patienten mit Indika­tion zur OP und eine bevorzugte interventionelle Therapie von resektablen kolorektalen Lebermetastasen wurden als mögliche alternative Therapieoptionen von einer Mehrheit von jeweils über 90 Prozent deutlich abgelehnt.

Ebenso sieht die Mehrheit der Befragten (81 Prozent bzw. 63 Prozent) zum aktuellen Zeit­punkt keine Notwendigkeit, alle kolorektalen Eingriffe unter spezieller Schutzausrüs­tung durchzuführen oder die Ausbildung von jungen kolorektalen Chirurgen zur Optimierung der OP-Kapazitäten einzuschränken.

Keine klaren Mehrheiten bestanden allerdings hinsichtlich der Fragen, ob alle Patienten vor einem kolorektalen Eingriff standardmäßig auf COVID-19 getestet werden sollten (Zustimmung 51 Prozent gegenüber Ablehnung 38 Prozent), ob auf den Einsatz eines OP-Roboters zur OP-Kapazitätsoptimierung zum aktuellen Zeitpunkt verzichtet werden sollte (Zustimmung 30 Prozent gegenüber Ablehnung 52 Prozent) und ob kolorektale Chirurgen zum aktuellen Zeitpunkt für die direkte intensivmedizinische Patientenversorgung von COVID-19-Patienten rekrutiert werden sollten (Zustimmung 36 Prozent gegenüber Ableh­nung 43 Prozent).

In Bundesländern mit einer COVID-19-Fallzahl von mehr als 150 Patienten pro 100.000 Einwohnern (Bayern, Baden-Württemberg, Saarland, Hamburg und Nordrhein-Westfahlen (Stand 20.04.2020)) wurde hierbei der Einsatz von Kolorektalchirurgen in der Versorgung von COVID-19-Patienten signifikant häufiger bejaht (Zustimmung 54 Prozent gegenüber 29 Prozent in Bundesländern mit geringer COVID-19-Fallzahl).

Ein weiteres strittiges Thema ist die operative Versorgung von COVID-19-Patienten in spe­zialisierten Zentren (Zustimmung 43 Prozent gegenüber Ablehnung 52 Prozent). Wäh­rend Kliniken der Maximalversorgung dies zu 67 Prozent befürworteten, lag die Zu­stim­mung bei allen anderen Kliniken mit 24 Prozent gering.

Gleichbehandlung der Patienten

Diese deutschlandweite Umfrage erfasst erstmals die aktuelle Versorgungslage onkologi­scher kolorektaler Patienten während der COVID-19-Pandemie: OP-Kapazitätsbeschrän­kungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie betreffen in 34 Prozent der Kliniken auch onkologische kolorektale Resektionen und sind damit relevant.

Diese Tatsache wird allerdings von der Mehrheit der befragten Chirurgen als kritisch ge­sehen. Bezüglich der Therapie onkologischer kolorektaler Patienten während der COVID-19-Pandemie plädiert die Mehrheit der befragten deutschen Chirurgen für zeitgerechte Operationen mit einer maximalen Verlängerung der Wartezeit von zwei Wochen sowie für das Einhalten des leitliniengerechten Standardvorgehens.

Grundsätzlich ist in einem ethischen Diskurs zu hinterfragen, wieviel potentielle Progno­se­verschlechterung onkologischer Patienten für die Kapazitätsvorhaltung von im Wesent­lichen noch nicht eingetretenen Erkrankungsfällen einer anderen Entität in einem hoch entwickelten Industrieland gerechtfertigt ist.

Autoren: Dr. Maximilian Brunner, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Universitäts­klinikum Erlangen, Prof. Dr. Benno Stinner, Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirur­gie, Elbe Kliniken Stade, Prof. Dr. Stefan R. Benz, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kin­derchirurgie, Kliniken Böblingen, Prof. Dr. Robert Grützmann, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Universitätsklinikum Erlangen

EB

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung