Ärzte und Wissenschaftler: Wochenlanges Koma der Gesellschaft nicht zielführend

Berlin – Im weiteren Management der COVID-19-Pandemie sollten die bisherigen Evidenz- und Erfahrungsgewinne berücksichtigt, ein breites Herunterfahren des Alltagslebens vermieden und zugleich die Akzeptanz für zielgerichtete Maßnahmen zur SARS-CoV-2-Eindämmung gesteigert werden.
Dafür haben sich eine Vielzahl von Ärzten und Wissenschaftlern in einem heute vorgelegten Positionspapier ausgesprochen. Ein „wochenlanges Koma“ der gesamten Gesellschaft sei nicht zielführend und drohe bleibende Schäden für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft anzurichten, warnte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereingung (KBV).
In dem Papier, das neben der KBV von Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, sowie Jonas Schmidt-Chanasit, Leiter der Abteilung Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, erarbeitet und von zahlreichen Berufsverbänden und Fachgesellschaften unterzeichnet wurde, werden mehrere Vorschläge als Diskussionsgrundlage unterbreitet.
Einen zentralen Punkt stellt die Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere COVID-19-Krankheitsverläufe haben, dar.
Wie Streeck betonte, müssten diese deutlich besser geschützt werden – dies erfolge bislang nicht systematisch. Dies betreffe entsprechende Vorkehrungen in Pflegeheimen und Krankenhäusern, aber auch Menschen der Risikogruppen, die zu Hause leben. Denkbar sei beispielsweise FFP2-Masken oder auch Tests zur Verfügung zu stellen, um Besuch bekommen zu können.
Zudem, so Streeck, sollte eine transparente Risikokommunikation mit einer „Gebotskultur“ verknüpft werden. Man werde womöglich noch Jahre mit dem SARS-CoV-2-Virus leben müssen – ein Lockdown werde zwar die Infektionszahlen nach unten drücken, langfristige Wirkungen seien aber nicht zu erwarten.
Gassen betonte in diesem Zusammenhang ebenfalls, es brauche „nachhaltigere Strategien“ als wiederholte Lockdowns. Auch Schmidt-Chanasit sprach sich dafür aus, Perspektiven aufzuzeigen. Eine reine Verbotspolitik treibe viele potenzielle Risikokontakte ins Private oder gar Illigale.
Deshalb sei es unter anderem nicht sinnvoll, kulturelle oder gastronomische Einrichtungen mit funktionierendem Hygienekonzept zu schließen. Diese seien, hier schloss sich Streeck ausdrücklich an, bislang nicht als Infektionstreiber aufgefallen.
Weitere Punkte des Papiers betreffen die Abkehr von der individuellen Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter sowie die Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems. Dieses soll alle relevanten Kennzahlen wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten einbeziehen.
Die Gesundheitsämter sollen zudem eine Priorität auf Fälle mit Bezug zu medizinischen und pflegerischen Einrichtungen oder Veranstaltungen mit vielen Infizierten legen.
Sowohl Gassen als auch Streeck, Schmidt-Chanasit und KBV-Vize Stephan Hofmeister gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sich die Politik offen für die Diskussionsanregungen zeigt.
Risikogruppenadaptierte Maßnahmen ließen sich auch in sicher noch folgenden Bund-Länder-Runden aufgreifen, so Streeck mit Blick auf die heutigen Gespräche der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder.
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