Politik

Bundestag verabschiedet Triagegesetz, Ex-Post-Triage ausgeschlossen

  • Donnerstag, 10. November 2022
/picture alliance, Bernd von Jutrczenka
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Berlin – Der Bundestag hat heute das Triagegesetz in zweiter und dritter Lesung beschlossen. Der Großteil der Koalitionsfraktionen hat für die Verabschiedung gestimmt. Allerdings gab es bei der finalen Abstimmung fünf Nein-Stimmen bei den Grünen und zwei bei der FDP sowie je eine Enthaltung.

Das „Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“ soll die Diskriminierung von Menschen mit Be­hinderungen für den Fall einer Verknappung lebensnotwendiger medizinischer Versorgung in Notfällen ver­hindern.

Der Gesundheitsausschuss gab gestern bereits grünes Licht für das Gesetz und fügte noch letzte Änderungen ein. Das Gesetz ist nicht zustimmungspflichtig, bedarf also keiner Zustimmung des Bundesrates.

Im Gesetz heißt es, dass niemand aufgrund einer übertragbaren Krankheit bei der Zuteilung nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten benachteiligt werden dürfe.

Es dürfe keine entsprechende Diskriminierung insbesondere wegen einer Behinderung, des Grades der Ge­brechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung geben.

Allein die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen sei entscheidend. Weitere Erkrankungen dürfen nur eingeschränkt berücksichtigt werden.

Kriterien wie Alter, Behinderung und Gebrechlichkeit dürfen nicht herangezogen werden, sofern sie nicht kurzfristig Einfluss haben. Die Entscheidungen müssen zwei erfahrene Fachärztinnen oder -ärzte der Inten­sivmedizin unabhängig voneinander treffen.

Damit soll die Frage beantwortet werden, wer in Krisenzeiten bei nicht mehr vorhandenen Ressourcen inten­sivmedizinisch behandelt werden soll. Zudem sollen Krankenhäuser dazu verpflichtet werden, eine Zutei­lungs­entscheidung unverzüglich der für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörde anzuzeigen.

Außerdem ist eine Evaluation der Neuregelung vorgesehen. Dafür wird das Bundesministerium für Gesund­heit (BMG) verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten nachdem erstmals eine entsprechende Zuteilungsent­scheidung bei einer Landesbehörde eingegangen ist oder spätestens bis zum 31. Dezember 2025 eine externe Evaluation zu beauftragen.

Ex-Post-Triage explizit ausgeschlossen

Vorgesehen ist auch, dass derjenige, der ein Intensivbett erhalten hat, in diese Abwägung nicht mehr einbe­zo­gen werden darf. Diese sogenannte Ex-Post-Triage ist im Gesetz explizit ausgeschlossen.

Damit kann eine lau­fende intensivmedizinische Behandlung zugunsten eines Patienten mit besseren Überle­benschancen nicht mehr abgebrochen werden. Insbesondere dieses Verbot ist höchst umstritten.

Allerdings heißt es in der Begründung des Gesetzes, dass der Abbruch einer intensivmedizinischen Behand­lung infolge einer Therapiezieländerung hiervon ausgenommen werde.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, erklärte dazu: „Entscheidend für Zuteilungsentschei­dungen ist neben der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten immer auch die ärztliche Indikation und der Patientenwille.“ Diese drei Kriterien hätten deshalb als Grundlage für Zuteilungsentscheidungen im Gesetz verankert werden müssen.

„Für uns ist es unabdingbar, dass Ärztinnen und Ärzte sich keinen rechtlichen Risiken aussetzen, wenn sie in extrem schwierigen Situationen unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der medizinischen Wis­senschaft eine Entscheidung zur priorisierten Allokation medizinischer Ressourcen treffen", sagte Reinhardt. Er begrüßte hingegen die vorgesehene Evaluation der Triageregelungen, um die Auswirkungen auf die medizini­sche Praxis zu überprüfen.

Auch der Intensivmediziner Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) kritisierte die Entscheidung, die Ex-Post-Triage in Extremsituationen auszuschließen. „Das setzt uns Ärztinnen und Ärzte im Moment sehr unter Druck und wird auch zukünftig ein großer Diskus­sionspunkt bleiben“, sagte er heute morgen im ARD-Morgenmagazin.

Im Gesundheitsausschuss Mitte Oktober hatte er zudem erklärt, viele Mediziner würden sich gerade große Sorgen machen, dass sie deshalb in entsprechenden Situationen mit Fragen eines Totschlags konfrontiert werden würden. Mit dem Ausschluss sei hier keine juristische Sicherheit für die Ärzteschaft gegeben.

Hintergrund des Gesetzes ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021. In dieser hatte das Gericht den Gesetzgeber dazu aufgefordert, unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung bei sogenannten Triageentscheidungen zu treffen.

Im Vorfeld hatten verschiedene Stimmen eine Aufschiebung der Abstimmung gefordert, darunter CDU/CSU oder das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR). Das DIMR hatte zudem eine Abstimmung als Gewissensentscheidung, also ohne Fraktionszwang, gefordert.

Lauterbach: Ex-Post-Triage ist unethisch

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte heute vor der Abstimmung, dass die Triage in dieser Form in Deutschland „Gott sei Dank“ noch nie praktiziert worden sei. Allerdings rechne er künftig mit mehr Pandemien, deshalb müssten entsprechende Vorbereitungen getroffen werden. Er bekräftigte, dass hin­sichtlich dieser Entscheidung aber niemand benachteiligt werden dürfe. „Das wollen wir mit diesem Gesetz sicherstellen.“

Zudem sagte Lauterbach, dass er eine Ex-Post-Triage für unethisch halte. Das beste sei aber, es erst gar nicht zu den Zuteilungsentscheidungen kommen zu lassen. Deswegen arbeite die Regierung an Krankenhaus­reform­­plänen, um auch in Zukunft entsprechende intensivmedizinische Kapazitäten vorzuhalten.

Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen begrüßte das Gesetz, hofft aber, dass es nie zur Anwendung komme. „Wir wollen grundsätzlich zu einem inklusiven, barrierefreien Gesundheitssystem kommen“, sagte sie. Dafür werde ein Aktionsplan entwickelt, kündigte Kappert-Gonther an. Hier soll vor allem die Vortriage in Pflegehei­men ehrlich thematisiert werden.

Katrin Helling-Plahr (FDP) sprach sich ebenfalls für das Gesetz aus und erklärte, dass die Ampelregierung da­mit ihrer Verantwortung gerecht werde, die Schutzpflicht für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.

Opposition kritisiert unzureichende Einbeziehung von Betroffenen

Hubert Hüppe von der CDU kritisierte eine mangelnde Einbeziehung von Behindertenverbänden im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses. Zudem bemängelte er, dass Triagesituationen verursacht durch Naturkatastro­phen, Terror oder Krieg durch das vorliegende Gesetz nicht berücksichtigt werden. Hüppe hätte sich zudem Sanktionsmöglichkeiten innerhalb des Gesetzes gewünscht, um bei Nichtbeachtung der Regelungen Konse­quenzen zu ziehen.

Auch die Linke mahnte eine unzureichende Einbindung von Betroffenen an. „Menschen mit Behinderungen nennen dieses Gesetz Selektionsgesetz“, kritisierte Sören Pellmann. Das Entscheidungskriterium der kurzfris­tigen Überlebenswahrscheinlichkeit sei nicht gut und opfere die als schwach angesehenen Menschen.

Die AfD sprach sich ebenfalls gegen das Gesetz aus. Der AfD-Abgeordnete Martin Sichert kritisierte den Ausschluss der Ex-Post-Triage.

Das Gesetz wurde zwar von der Ampelregierung auf den Weg gebracht und verabschiedet, allerdings zeigte sich auch Kritik aus den eigenen Reihen. Die Grünen-Abgeordnete und Berichterstatterin für Behinderten­po­litik, Corinna Rüffer, erklärte etwa vor der Abstimmung, dass das vorgesehene Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit, immanent diskriminierend wirke.

Es diene nicht dazu, die schwachen Patientinnen und Patienten zu schützen, sondern sei im Gegenteil darauf gerichtet, die „fittesten“ zu retten. Damit stellt das Gesetz einen Eckpfeiler unseres Grundgesetzes – den gleichen Wert jedes Menschenlebens – infrage.

Diese ethische und verfassungsrechtliche Tragweite sei in der bisherigen Debatte untergegangen, da der politische Prozess um eine Triageregelung fatalerweise gesundheitspolitisch-medizinisch angelegt war. Sie kündigte an, nicht zustimmen zu wollen.

cmk

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