Ärzteschaft

„Das hat uns ganz neue Einblicke gegeben in die Abläufe der Gleichschaltung der Ärzteschaft“

  • Donnerstag, 28. November 2024

Berlin – Ab dem 29. November 2024 präsentiert die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) gemeinsam mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) in Berlin erstmalig die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ der Öffentlichkeit. Gezeigt werden verschiedenste Fallgeschichten – von Ärzten als auch Patienten, von Tätern als auch Opfern.

Sjoma Liederwald/privat
Sjoma Liederwald/privat

5 Fragen an Sjoma Liederwald, M.A. Der Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin hat das Projekt wissenschaftlich zusammen mit Dr. Ulrich Prehn begleitet.

Was für Akten lagen Ihnen für das Projekt „Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) im Nationalsozialismusauswerten können?“ genau vor?
Das ist wirklich alles, was aus der Zeit noch da war und Bezug zum Nationalsozialismus hatte. Das sind Akten, die gehen teilweise zurück in die 1920er Jahre, aber auch Akten, die reichen rein bis in die 1980er Jahre, 1990er Jahre. Wir haben viel Schriftverkehr aus der Rechtsabteilung. Dementsprechend sind es viele Rechtsfälle, zum Beispiel die standesrechtliche Beurteilung der esoterischen Medizin, aber auch Abrechnungsstreitigkeiten und dem Austausch mit der Reichsärztekammer und anderen Ärzteorganisationen. Darüber hinaus Schriftverkehr aus der Buchhaltung und massenhaft Personalakten. Es sind zusammen 895 Archivalien, die von dünnen Personalakten von zwei, drei Seiten bis hin zu ganzen Aktenordnern reichen.

Wie haben Sie die Akten ausgewertet?
Wir hatten ursprünglich nur den Auftrag, diese Akten durchzusehen und sie archivalisch zu erfassen. Also eine Datenbank anzulegen, wo Titel, Kurzinhalt, Überlieferungsformen und Laufzeit beschrieben wurden. Wir haben aber auch vorkommende Institutionen, Personen, Themenfelder et cetera erfasst, damit diese zukünftig wissenschaftlich ausgewertet werden kann. Im Zuge der Verzeichnungstätigkeit sind wir dann dazu übergegangen, einzelne Archivalien, die wir als außergewöhnlich wichtige Dokumente wahrgenommen haben, zu digitalisieren. Ich schätze, dass dies maximal fünf bis zehn Prozent des Gesamtumfangs sind.

Können Sie da Beispiele nennen?
Das ist auf jeden Fall das Protokollbuch des Deutschen Ärztevereinsbundes. Also einer der Vorgängerorganisationen der KVD. Aus diesem Buch, dass ungefähr aus dem Jahr 1933 stammt, geht sehr deutlich hervor, wie Nazi-loyale Ärztefunktionäre versuchten, ärztliche Vereine und Institutionen sozusagen aufzuräumen. Es ist namenschriftlich protokolliert, welche politisch unliebsamen Funktionäre entlassen wurden und welche rassistischen Erwägungen eine Rolle spielten. Das hat uns ganz neue Einblicke gegeben in die Abläufe der Gleichschaltung der Ärzteschaft.

Ein anderes Beispiel war ein klassischer Leitz-Aktenordner, auf dessen Rücken handschriftlich „Juden“ stand. Das hat uns natürlich neugierig gemacht. In diesem Ordner sind Akten aus dem Zeitraum zwischen 1934 und 1943, die ausschließlich mit jüdischen Ärzten zu tun haben. Das heißt mit der Ausgrenzung von jüdischen Ärzten und dem Entzug der Kassenzulassung mit der Einführung der Reichärzteordnung durch die Reichärztekammer 1935. Ein sehr wichtiges Dokument datiert vom 22. Dezember 1938. Das ist ein Schriftverkehr zwischen der KVD und der Gestapo. Es war offensichtlich so, dass im Rahmen der Novemberpogrome 1938 auch zahlreiche jüdische Ärzte verhaftet worden waren und in Konzentrationslager eingeliefert wurden.

Das hat dazu geführt, dass plötzlich jüdische Patienten wieder bei nicht jüdischen Ärzten vorstellig wurden. Das wollte man aber partout vermeiden. Daraufhin hat sich die KVD offensichtlich an die Gestapo gewendet mit der Bitte, diese jüdischen Ärzte aus den Konzentrationslagern wieder zu entlassen. Soweit wir das nachvollziehen können aus den Biografien derjenigen jüdischen Ärzte, die verhaftet wurden, ist dies dann auch erfolgt. Zum 1. Januar 1939 waren nach unseren Erkenntnissen zum Beispiel keine jüdischen Ärzte mehr im Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt.

Wie ist dann die Wanderausstellung zustande gekommen?
2022 war die Erschließungsarbeit der Archivalien abgeschlossen. Dann haben wir mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung überlegt, was wir daraus machen. Dann kam die Idee einer Wanderaustellung, die öffentlichkeitswirksamer ist als eine große Studie. Wir haben uns bei der Ausstellung auf das Beziehungsdreieck, Patient, Arzt, Standesorganisation und wie sich dieses durch die nationalsozialistische, gesundheitspolitische Intervention verändert hat. Die erschlossenen Archivalien sollen zudem so aufbereitet werden, dass sie zugänglich sind für die weitere wissenschaftliche Erschließung durch Dritte.

Welche Themen finden sich in der Ausstellung?
Einmal das eben beschriebe Beziehungsdreieck und die Intervention der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik. Dabei geht um Fragen wie die Abschaffung der Schweigepflicht. Oder später der Umgang mit medizinischer Versorgung von Kriegsgefangenen. Es geht um die hausärztliche Versorgung, aber auch um Medizinverbrechen in Konzentrationslagern und die rechtliche Aufarbeitung danach. Da geht die Ausstellung thematisch sehr in die Breite. Es dreht sich immer um das Beziehungsdreieck.

Der Fokus wird immer wieder dadurch hergestellt, dass diese einzelnen Themen anhand von Einzelbiografien, von klaren biografischen Beispielen erläutert werden. Zum Beispiel der Fall der Familien Arndt und Gehre. Arthur Arndt ist jüdischer Hausarzt in Kreuzberg. Die deutsche Patientenfamilie Gehre ist ihm sehr verbunden über die ärztliche Betreuung ihrer Tochter. Die Familie Gehre versteckt die Familie Arndt vor der Deportation bis zum Ende des Krieges erfolgreich. Das ist z.B. ein Fall von Hilfeleistung, den wir in der Ausstellung behandeln. Für diese Beispiele haben wir mit anderen Museen und Universitäten zusammengearbeitet, wie der Medizinischen Sammlung der Charité.

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