Ausstellung: Die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus

Berlin – Es sind gerade die individuellen und menschlichen Schicksale und die Gesichter, die die abscheulichen Taten der Nazis gegenüber jüdischen Ärzten und Patienten anschaulich machen. Dies ist das Konzept der Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“, die gestern in den Räumen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eröffnet wurde.
Sie bringt Akten unter anderem aus der Rechtsabteilung der KBV von den 1920er bis in die 1990er Jahre und Fallbeispiele zusammen. Einige Akten lagerten in Köln, andere wurden zufällig in Büros in Berlin gefunden. Gleichzeitig kann man den Akten, die für die Ausstellung ausgewertet wurden, auch die „feinen Verschiebungen im Grundverständnis der Ärzte“ entnehmen, die bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten deutlich wurden, wie es der Medizinische Sachverständige des Nürnberger Ärzteprozesses, Leo Alexander, dem Kurator der Ausstellung Ulrich Prehn zufolge formulierte. Die Ausstellung will Opfer, aber auch Täter deutlich benennen.
So mahnte die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung, Petra Reis-Berkowicz: „Die Ärzteschaft hat durch nichts wieder gutzumachende Schuld auf sich geladen, in dem sie zum wesentlichen Teil zur Mordmaschinerie der Nationalsozialisten wurde, die ohne die Unterstützung in dieser Form gar nicht hätte funktionieren können. So schwer uns die Betrachtung heute fällt, desto weniger dürfen wir dieses Kapitel als abgeschlossen in unserer Geschichte betrachten.“
Die Ärzteschaft habe sich, wie auch andere Berufsgruppen, lange schwer getan, sich mit der eigenen Geschichte tiefer zu befassen.

Darum sei diese Ausstellung umso wichtiger. „Die Vertreterversammlung als höchstes Gremium der Kassenärztlichen Bundesvereinigung stand ab dem ersten Beschluss zur Aufarbeitung im Jahr 2017 über mehrere Projektverlängerungen bis hin zur Finanzierung der Ausstellung und des Katalogs mit absoluter Geschlossenheit und Einstimmigkeit hinter diesem Vorhaben stand und steht“, betonte Reis-Berkowicz.
Natürlich blicke man mit der Ausstellung in die Vergangenheit, aber müsse auch die Verantwortung für die Zukunft sehen, sagte Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. Denn wenn heute „unsere jüdischen Freundinnen und Freunde aus Angst Deutschland verließen“, müssten die Alarmglocken läuten. Auch Gassen wies auf die Schuld der Ärzteschaft und die späte Aufarbeitung der Rolle der Standesorganisationen hin.
Als Beispiel nannte er den ehemaligen Sitz der KBV und Bundesärztekammer (BÄK), die Haedenkampstraße in Köln, die diesen Namen noch bis 1986 trug. Karl Haedenkamp war einer der höchsten ärztlichen Funktionäre in der Nachkriegszeit, aber auch in der Nazizeit aktiv bei der „Ausschaltung von jüdischen und sozialistischen Ärzten“, erläuterte Gassen.
„Das ist ein gutes Beispiel für die Systemerkrankung: Wie sich Standesvertreter zu willfährigen Handlangern des NS-Regimes machten“, so der KBV-Vorstandsvorsitzende. „Wir leben in Deutschland heute in der Verantwortung, dass niemals wieder extremistische Parteien die Macht erlangen“, mahnte Gassen.

Die Haedenkampstraße wurde dann auf öffentlichen Druck in Herbert-Lewin-Straße umbenannt, benannt nach dem jüdischen Arzt und SPD-Politiker, der nach dem Krieg auch an der Spitze des Zentralrates der Juden in Deutschland stand. Beim Umzug nach Berlin 2004 nahmen die ärztlichen Organisationen die Anschrift aus Köln – Herbert-Lewin-Straße – „einfach mit“, so Gassen.
Bei der Feierstunde zur Eröffnung der Ausstellung berichteten die Rednerinnen und Redner von vielen Schicksalen, die sich auch in der Ausstellung wiederfinden. Am 30. September 1938 wurde allen jüdischen Ärzten die Approbation entzogen, sie wurden aus den Berufsorganisationen ausgeschlossen, ihre Verdienste wurden ihnen aberkannt. Wenige Tage später, am 17. Oktober 1938, hieß es in einem Schreiben des Reichsärzteführers, die Wartezimmer der deutschen Ärzte solle nicht mit Juden bevölkert werden.
Allerdings kam es durch den Entzug der Approbation zu Versorgungsengpässen in der Bevölkerung, in Berlin hatten zwei Drittel aller Kassenärzte jüdische Wurzeln. Daraufhin durften einige von ihnen zumindest jüdische Patienten wieder betreuen – allerdings nicht mehr als Arzt sondern als sogenannte Krankenbehandler. Dieses Dokument zur „Ausschaltung der jüdischen Ärzte“ fand sich in den Archiven der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Für Orit Farkasch-Hacohen, Vizepräsidentin der Knesset in Israel, ist es besonders wichtig, den heutigen Antisemitismus klar zu benennen: Nach dem 7. Oktober 2023, dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israelischem Gebiet zeige sich die schreckliche Fratze des Antisemitismus in Europa und der ganzen Welt, sagte sie.
Sie dankte der KBV, dass sie mit der mit der Ausstellung die Erinnerung an den Antisemitismus aufrecht erhalte. Darum sei solch eine Ausstellung wichtiger denn je. Gewalt und Hass gegen jüdische Menschen hätten in Europa wieder Fuß gefasst, sagte Farkasch-Hacohen.

„Auch den Bundestag haben die von den Ärzten begangenen Verbrechen immer wieder beschäftigt", sagte Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages. Aktuell werde ein Antrag beraten, in dem die Aufarbeitung der Euthanasieprogramme und der Zwangssterilisierung intensiviert werden soll, berichtete Pau. „Im Kulturausschuss hat es dafür bereits eine breite Mehrheit gegeben.“ Doch der endgültige Beschluss durch das Plenum des Deutschen Bundestages stehe nun noch aus.
„Und ich fürchte, dass diese durch den 20. Deutschen Bundestag nicht mehr gefasst wird, es sei denn, wir schaffen es, fraktionsübergreifend tagsächlich dieses Thema jenseits des aufziehenden vorgezogenen Bundestagswahlkampfes in Würde und in Verantwortung im Deutschen Bundestag zu beschließen.“
Die Aufarbeitung der Zeit ist aber auch für Bundesministerien wichtig, betonte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) stelle sich dieser Verantwortung und habe zwei Forschungsprojekte initiiert. Damit werde die Nachkriegsgeschichte der beiden Gesundheitsministerien in der DDR und der Bundesrepublik erforscht. Die Ergebnisse machten „schonungslos“ deutlich, wie lange der Nationalsozialismus die öffentliche Gesundheit noch prägte.
Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus zähle zu den dunkelsten Kapiteln der Ärzteschaft. Das ärztliche Handeln in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen, wurde systematisch in sein Gegenteil verkehrt, so der SPD-Minister.
Ärztinnen und Ärzte hätten grauenvolle Verbrechen an Juden begangen, von Euthanasie über Zwangssterilisierungen bis hin zu Menschenversuchen in den Konzentrationslagern. Zudem hätten die Nationalsozialisten jüdische Ärztinnen und Ärzte verfolgt, entrechtet und ermordet. Die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus an jüdischen Menschen dürfe nie einen Abschluss finden, mahnte Lauterbach.
Die Ausstellung ist noch bis Februar 2025 in den Räumen der KBV in Berlin zu sehen. Danach wird sie 2025 und 2026 in allen KV-Standorten bundesweit präsentiert.
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