Ärzteschaft

DGE stellt erstes vorläufiges Konzept zur personalisierten Ernährung vor

  • Freitag, 9. September 2022
/Kittiphan, stock.adobe.com
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Bonn – Eine personalisierte Ernährung (PE) verspricht, mittels mehrerer Faktoren die Gesundheit und das Wohlbefinden zu verbessern. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat vergangene Woche ein erstes Manuskript für ein adaptives Systems zur PE bei den 6. Bonner Ernährungstagen vorgestellt. Dabei steht nicht mehr zwangsweise die Gesundheit im Fokus.

„Wir alle reagieren unterschiedlich auf Ernährung, abhängig von unserer Genetik oder unserem Metabolis­mus“, sagte die Psychologin Britta Renner von der Universität Konstanz. Allgemeine Ernährungsempfehlungen seien zu ungenau und würden keine optimale Auswahl ermöglichen.

Viele Forschungsinitiativen richten sich darauf aus, die individuellen biologischen Systeme besser und präzi­ser zu verstehen. „Die Entwicklung ist rasant“, berichtete Renner und nannte alltagstaugliche Tattoo-ähnliche Glukosesensoren als ein Beispiel.

Evidenz noch unzureichend

Die Evidenzlage zur PE sei jedoch eher ernüchternd. Zwar lassen sich aus wissenschaftlichen Studien modera­te Effekte durch die verstärkte Motivation erkennen. Aber Analysen zur Individualisierung wie Gen- und Blut­analysen oder Mikrobiom-Daten ergäben meist keine statistisch sicherbaren Verbesserungen des Ernährungs­verhaltens oder des Lebensstils. Zu diesem Schluss kommt ein Review der Technischen Universität München (TUM) in Molecular Nutrition and Food Research (DOI: 10.1002/mnfr.202200077). Das Deutsche Ärzteblatt hat berichtet.

Das Team um Erstautorin Christina Holzapfel von der Nachwuchsforschergruppe Personalisierte Ernährung & E-Health (PeNut) an der TUM schreibt: Trotz fast 20 Jahren Forschung und kommerzieller Angebote, fehle es immer noch an Beweisen für den Erfolg von genbasierten Ernährungsempfehlungen.

Dies erfordere neue Konzepte für künftige PE-Lösungen, die mehr phänotypische Messgrößen einbeziehen und ein Instrumentarium bereitstellen (zum Beispiel Selbst- und Biomonitoring-Tools, Feedback-Systeme, auf künstlicher Intelligenz basierende Algorithmen), das die Compliance auf der Grundlage des physischen und sozialen Umfelds und des Wertesystems des Einzelnen erhöht.

Psychologische Effekte stärker als genetische Disposition

Renner ist dennoch überzeugt, dass die Personali­sie­rung von Ernährungszielen funktionieren kann – jedoch aus anderen Gründen als die meisten vermuten würden. Hierbei kommt der gut belegte Barnum-Effekt ins Spiel.

„Demnach kann eine vermeintliche Personalisie­rung der Ernährungsziele eine höhere Akzeptanz induzieren“, erklärte die Psychologin aus Konstanz.

Dadurch würden nicht nur psychologische und verhaltensbezogene, sondern auch physiologische Reaktionen zustande kommen. Diese Effekte seien sogar stärker als die einer genetischen Dispositi­on, wie eine Studie in Nature Human Behaviour 2019 zeigen konnte (DOI: 10.1038/s41562-018-0483-4).

Das Problem der aktuellen Empfehlungen liegt laut Renner darin, dass die multifaktorielle, dynamische und idiosynkratische Natur des Ernährungsverhaltens im Alltag nicht berücksichtigt werde. Entscheidend seien der Zeitpunkt und die Art der Empfehlung, sagte die Psychologin und verwies auf Just-in-time Adaptive Inter­ventions (JITAIs).

„Um die Empfehlung zu personalisieren, muss immer wieder die Frage gestellt werden, wie, wann und wo kann die Unterstützung erfolgen.“ Smartphones und Sensoren versteht die DGE als digitale Ökosysteme. Sie machen solche personaliserten JITAIs möglich. Die Forschung zu JITAIs befinde sich allerdings noch am Anfang (DOI: 10.1111/obr.12903).

Adaptive personalisierte Ernährungsberatungssysteme als Vision

Die Untergruppe der DGE zur PE verpackt ihre Zukunftsvision hinter der Abkürzung APNAS – das steht für Apadtive Personalized Nutrition Advice Systems. Die Datenerfassung sollte daher mehrere Komponenten um­fassen: genetische und metabolische Phänotypisierung, individuelle Verhaltenssignatur, Ernährungsum­ge­bung.

Zudem sieht das PE-Manuskript der DGE vor, die Ziele der PE auszuweiten. Die bisher stark biome­dizinisch und gesundheitlich ausgerichtete Posi­tion könnte erweitert werden beispielsweise durch Aspekte der Nachhaltigkeit oder soziale Gesichtspunkte.

Die DGE hat sich auf eine Reihe von langanhal­tenden Makro- und kurzweiligen Mikrozielen ver­ständigt (siehe Kasten).

Als weiteren Aspekt nennt Renner die personali­sier­ten Prozesse der Verhaltensänderung. „Es be­darf einer dynamischen Priorisierung von Ver­haltensakten, die auf uns abgestimmt sind.“

Gesundheit der Bevölkerung

Der Sicht des Individuums steht die Gesundheit auf Bevölkerungsebene gegenüber. Auch hierzu hat sich die DGE-Gruppe Gedanken gemacht. Mögliche Maßnahmen stellte Anette Buyken beim wissenschaftlichen Symposium in Bonn vor:

Die Wahl der Ernährung könnte bestimmte Optionen ausschließen durch Verbote, Optionen einschränken, die Auswahl lenken durch Abschreckung oder Anreize geben, beides wäre mit einer Steuer umsetzbar. Die Stan­dards könnten verändert werden und somit die Auswahl lenken.

Erste Schritte seien hierbei bereits von der Regierung umgesetzt worden mit der Reformulierungsstrategie und dem NutriScore, so Buyken und weiter: „Der Fokus muss sich wegbewegen von Personen mit hohem so­zioökonomischen Status.“

In diesem Ziel sieht Buyken die schwierigste Hürde, die noch weiter ausbuchstabiert werden müsse. Das neue PE-Modell setzte weiterhin beim Individuum an, rücke das Individuum dabei aber in den Kontext der Volksge­sundheit (public health), sofern mit dem neuen Ansatz viele Menschen erreicht werden würden.

Die Zukunftsperspektive der DGE fasste Renner wie folgt zusammen: „Digitale APNAS, Ökosysteme und ihre technischen Infrastrukturen könnten Teil einer Publicsphere werden, wie es Acatech beschrieben hat, oder Teil öffentlicher Dienste und auch Teil einer offenen Datengesellschaft.“

gie

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