Politik

Digitalisierung: Das Berufsbild des Arztes wird sich wandeln

  • Mittwoch, 21. Juni 2017
/pgottschalk, stock.adobe.com
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Berlin – „Die digitale Transformation hat in der Medizin noch nicht stattgefunden.“ Diese These vertrat Horst Karl Hahn, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bildgestützte Medizin Mevis, bei einer Podiumsdiskussion während des diesjährigen Hauptstadt­kongresses Medizin und Gesundheit. Die Datenberge wachsen, doch derzeit liegen viele Daten nur verstreut vor.

„Der Grad der Vernetzung und Integration ist erschreckend gering“, so Hahn. Dabei sei die Digitalisierung die Grundlage für die digitale Transformation. Dennoch habe die Dynamik in Forschung und Technologie zugenommen, was den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) betreffe. So habe es vor etwa vier Jahren einen Durchbruch auf dem Gebiet des Deep Learning gegeben, der die Mustererkennung mit prädiktivem Wert ermöglicht habe.

Laut Hahn lässt sich etwa die Hälfte der diagnostischen Aufgaben digitalisieren. Angesichts der Orphanisierung von Krankheiten – große Krankheitsbilder zerfallen in immer kleinere homogene Subgruppen, die der Definition einer seltenen Erkrankung genügen – ist immer mehr Spezialwissen notwendig.

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„Das Wissen, das heute da ist, übersteigt das, was ein Arzt überhaupt leisten kann, egal wie spezialisiert er ist“, erläuterte der Experte. Andererseits: „Wir brauchen die Ärzte mit ihrem Sachverstand“, betonte Hahn. Auch wenn Computer immer mehr Aufgaben des Arztes übernehmen, seien Letztere nicht ersetzbar. „Das Konkurrenzdenken ist der größte Fehler.“

Fragmentierung im Krankenhaus

Von der Datenanalyse per KI scheint man im Krankenhaus generell noch ein gutes Stück entfernt zu sein. Auch wenn Laborwerte inzwischen automatisiert ins System gelangen, Röntgenbilder digital übermittelt werden und Intensivkurven im PSD-System vorlägen – im Krankenhaus sei vieles noch fragmentiert, „auch in den Köpfen“, befand Christian Schmidt, Ärztlicher Vorstand und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Rostock.

„Der Transformationsprozess wird noch sehr lange dauern.“ Die Komplexität der Medizin werde allerdings in den onkologischen Fallkonferenzen sichtbar. Schon heute gebe es Applikationen auf Basis intelligenter Datenbanken, die den Abgleich der individuellen Daten eines Patienten mit einer bestimmten Erkrankung und den Verläufen vergleichbarer Krankheitsfälle einschließlich Nebendiagnosen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren ermöglichten, meinte Schmidt.

Unterstützende Technologie

Dokumentation, Information, Kommunikation, Entscheidung und Mobilität – das sind für Andreas Tecklenburg, Vizepräsident und Vorstand für das Ressort Kranken­versorgung an der Medizinischen Hochschule Hannover, die entscheidenden Faktoren in der Versorgung, „und da kann uns Technologie ausgesprochen gut unterstützen“. Dies betreffe insbesondere die Entscheidungsebene.

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Beispiel Genomsequenzierung: „Mit jeder neuen Mutation, die wir finden, stellen sich zehn neue Fragen: Was bedeutet das für das Individuum?“ Entscheidend sei es, Wissen zu akquirieren, zu sortieren und die richtige Entscheidung für den jeweiligen Patienten zu finden. Die sozialen, psychologischen und persönlichen Rahmenbedingungen dabei mit einzubeziehen, könnten nur Ärzte. Die Technik sei aber ein zusätzliches Werkzeug für Ärzte, um Entscheidungen in die Peripherie zu bringen.

Arzt im Wettbewerb mit dem Computer

Markus Müschenich, Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin, verwies auf eine Studie der Standford University von Ende 2016 zum Thema Hauttumoren und computergestützte Diagnostik. Dabei wurde ein durch KI unterstützter Google Computer mit 130.000 Fotos von gut- und bösartigen Hauttumoren trainiert. Anschließend wurden ihm Fotos mit Hauttumoren zur Diagnostik vorgelegt und die Ergebnisse mit denen von Hautärzten verglichen. Die Ergebnisse waren gleich gut. Der Unterschied: Die Hautärzte hatten durchschnittlich elf Jahre Berufserfahrung, der Computer hingegen war lediglich zwei Wochen lang trainiert worden.

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„Ärzte haben plötzlich einen Wettbewerber in ihrem Arbeitsgebiet, und damit müssen sie umgehen“, meinte Müschenich. Ihm zufolge werden sich künftig neue Vertriebswege von Medizin entwickeln, die nicht von den Ärzten, sondern von den Patienten bestimmt werden. Allerdings fehle derzeit für patientenorientierte Services noch die „Killerapplikation“. Diese erwartet er insbesondere durch die Fortschritte des „natural language processing“. In dem Moment nämlich, in dem der Patient mit dem Computer sprechen könne, zusammengedacht mit den Fortschritten durch die KI, komme der Umschwung. „Dann stimmen die Patienten mit den Füßen ab“, erläuterte der E-Health-Experte.

Vor dem Hintergrund von Computern, die das Weltwissen vereinen und – anders als der Mensch, Erfahrungen nicht vergessen, was bleibt für den Arzt „übrig“? „Das Thema Empathie“, lautete Müschenichs knappe Antwort. Im Idealfall komme es zur Koexistenz zwischen Computer und Arzt. „Die Frage ist: Wer überwacht wen?“ Die Ärzte seien jetzt aufgerufen zu überlegen, was ihre primäre Kompetenz ausmache. „Das Wissen ist es definitiv nicht mehr“, so der Experte.

Mit weniger Fachkräften mehr Menschen versorgen

Der Fachkräftemangel wird Innovationen vorantreiben. Denn weniger Ärzte werden zukünftig in der Fläche immer mehr Patienten versorgen – mit entsprechend unterstützender Technologie, so die überwiegende Meinung der Podiumsteilnehmer. Dabei werden weniger Krankenhausstrukturen, wie es sie heute gibt, eine Rolle spielen, sondern hochkonzentrierte Kompetenzzentren, die moderne Technologie zur Entscheidungsfindung nutzen, meinte etwa Tecklenburg.

„Weniger Entscheidungsträger werden dabei mehr Entscheidungen übernehmen.“ Insbesondere der ambulante Bereich werde sich dramatisch verändern, etwa durch Sensorik und Vernetzung über Portale. „Aber wir werden immer den modernen Arzt brauchen, der mit vielen Informationen umgehen kann und entsprechende Werkzeuge verfügbar hat“, zeigte er sich überzeugt.

KBr

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