Eingeimpft: Ärzte und Wissenschaftler kritisieren fehlende Einordnung von Fakten

Berlin – Der Dokumentarfilm „Eingeimpft“ hat in Deutschland eine kontroverse Debatte über das Impfen angestoßen. Erhebliche Kritik an dem Film, der morgen in den Kinos anläuft, kam heute von Ärzten und Wissenschaftlern. Hauptkritikpunkt: Der Film mischt Meinungen und teilweise Fehlinformationen, ohne diese einzuordnen und richtigzustellen.
Aus Sicht der Kinder- und Jugendärzte verpasst die Dokumentation „die große Chance, dem Publikum durch ausgewogene, wissenschaftlich gesicherte Informationen die Bedeutung des Impfens zu erklären“, wie der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, betonte. Er bemängelte vor allem, dass sich der Film der wissenschaftlichen Erkenntnisse nur anekdotisch bedient. „Er stellt widersprüchliche Szenen und Meinungen – teilweise auch Fehlinformationen und wissenschaftlich widerlegte Hypothesen – nebeneinander, ohne diese einzuordnen“, so Fischbach. Die Zuschauer blieben am Ende eher ratlos zurück.
„Die 90 Minuten hätten einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, die Zuschauer ausgewogen über Impfungen zu informieren und Argumente für und gegen das Impfen objektiv zu beleuchten“, betonte auch Lothar H. Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). Stattdessen würden impfkritische Meinungen überwiegend unkommentiert wissenschaftlichen, evidenzbasierten Erkenntnissen gegenübergestellt. Aussagen würden weder gewichtet noch eingeordnet, einige Aspekte zumindest ungenau dargestellt.
„Die Risiken des Impfens treten so überproportional in den Vordergrund. Am Ende lässt der Film die Zuschauer eher ratlos zurück. Es steht zu befürchten, dass der Film dazu beitragen wird, impfkritische Eltern in ihrer Haltung zu bestätigen – und andere Eltern möglicherweise zu verunsichern“, erklärte der RKI-Präsident.
„Der Dokumentarfilm von David Sieveking hat die Chance verpasst, Fakten über Nutzen und Risiken von Impfungen, entlang des persönlichen Entscheidungsprozesses des Autors für und gegen das Impfen, ausgewogen darzustellen. Dies ist umso bedauerlicher, als viele der wissenschaftlichen Informationen dem Autor bekannt waren“, erklärte Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Der Film trage zur Diskussion impfkritischer Einstellungen „bedauerlicherweise keine Fakten bei“. Letztlich verbreite er zahlreiche Fehlinformationen und wiederhole Mythen, die wissenschaftlich längst widerlegt seien.
Um Ausgewogenheit bemüht
Für Jan Leidel, bis März 2017 Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim RKI, hat der Film impfkritische Tendenzen, bemühe sich aber „um Ausgewogenheit, wie Sieveking sie versteht“. Obwohl der Film gut und empathisch gemacht sei und sich der Filmemacher darum bemüht habe, den Konflikt eines Elternpaares über das Für und Wider des Impfens nach Möglichkeit durch Recherche zu lösen, gelinge ihm dies letztendlich nicht wirklich.
„Dies liegt meines Erachtens unter anderem daran, dass er die wissenschaftliche Kompetenz seiner Interviewpartner nicht einzuordnen weiß. Wiederholt reicht ihm der Hinweis auf den ‚promovierten Mediziner’ aus, um die jeweilige Kompetenz zu belegen“, bemängelt Leidel. Dies und zum Beispiel das Interview mit einer sehr angenehmen und zugewandten, hinsichtlich des Impfens aber nicht besonders qualifizierten Hebamme würden dazu führen, dass Aussagen „sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Evidenz und Relevanz praktisch gleichwertig nebeneinanderstehen“.
„Letztlich findet Sieveking zu einer Art halbwegs versöhnlichem Kompromiss, dessen Grundlage – nämlich die unspezifischen Effekte von Impfungen – allerdings derzeit sicher mehr Fragen aufwirft, als evidenzbasierte Antworten zu liefern. Er ermöglicht den Eltern aber immerhin die wichtigsten und längst überfälligen Impfungen der Töchter“, erläuterte Leidel.
Der Filmemacher David Sieveking selbst erklärte zu der Debatte, der Filme solle kein Regelwerk sein. Vielmeher gehe es ausschließlich darum, darauf aufmerksam machen, wie wichtig es sei, sich mit dem Thema zu beschäftigen. „Ich bin keineswegs gegen das Impfen. Ich bin dafür, dass die Impfprogramme verbessert werden und mehr Aufklärung betrieben wird“, sagte der Filmemacher und Buchautor. Er bezeichnet sich selbst ausdrücklich als Impfbefürworter.
Er erklärte zugleich, dass im Film die unterschiedlichsten Meinungen aufeinanderstoßen. „Ich möchte damit eine offene Debatte in der Sache auslösen und hätte nicht gedacht, dass ich pauschal und teils auch polemisch als Impfgegner verdammt werde, um jegliche Diskussion zu unterbinden. So wird etwa behauptet, ich würde den Verdacht äußern, Impfungen lösten Autismus aus, was im Film in keiner Weise behauptet wird“, stellte er klar. Im Buch werde sogar darauf hingewiesen, dass dieser Verdacht wissenschaftlich ausgeräumt sei.
Sieveking zufolge würden sich immer mehr Eltern gegen das Impfen entscheiden. „Man wird sie nicht überzeugen können, wenn man jegliche offene und fachliche Diskussion mit Polemik verhindert. Die geballte Reaktion zeigt, dass es richtig und wichtig war, diesen Film zu machen und dieses Buch zu schreiben, denn offenbar besteht großer Redebedarf“, sagte er.
Mit Impfskeptikerin verheiratet
Im Film wird Sieveking, für den Impfen nach eigener Darstellung immer eine Selbstverständlichkeit war, mit einer Impfskeptikerin, seiner eigenen Frau, konfrontiert. Der 40-Jährige, dessen Doku „Vergiss mein nicht“ über die Alzheimer-Erkrankung seiner Mutter preisgekrönt ist, lebt mit seiner Lebensgefährtin Jessica de Rooij in Kreuzberg. Als die Filmmusikkomponistin schwanger wird, steht plötzlich die Frage der Schutzimpfungen im Raum. Erst für de Rooij und dann für die kleine Tochter.
Doch anders als Sieveking, der sich über das Impfen bisher nie groß Gedanken gemacht hat und Ärzten vertraut, hat de Rooij große Vorbehalte. Diese verstärken sich noch, als sie nach ihrer eigenen Schutzimpfung gegen Tetanus und Diphtherie in der Schwangerschaft erkrankt und Frühwehen hat. Auch wenn aus Sicht der Ärzte ihre Erkrankung nichts mit der Schutzimpfung zu tun hat, ist sie von einem Zusammenhang überzeugt. Auch die Hebamme hält das für denkbar. Als dann Tochter Zaria auf die Welt kommt, wird die Impffrage aktueller und vor allem schwieriger. Anders als bei de Rooij ist die Kleine auf eine gute Entscheidung der Eltern angewiesen.
Sorgen Ernst nehmen
Sieveking sieht die großen Zweifel seiner Lebensgefährtin und nimmt ihre Sorge ernst. Er möchte der Frage nach Sinn und Risiken von Schutzimpfungen und Impfstoffen auf den Grund gehen. Er besucht nahezu jeden, der zu dem Thema etwas zu sagen hat, etwa die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut, das Paul-Ehrlich-Institut, die Gavi-Impfkonferenz, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Vertreter einer Langzeit-Impfstudie in Guinea-Bissau. Er widmet sich auch Anthroposophen, Pharmafirmen und Patienten, die bei sich einen Impfschaden sehen, und spricht mit Eltern, die nicht verstehen können, wie man sein Kind nicht impfen kann.
Dabei legt Sieveking einen Schwerpunkt auf Zusätze in inaktivierten Todimpfstoffen mit Wirkverstärkern. Vor allem zugefügte Aluminiumsalze und deren Nebenwirkungen erregen sein Interesse. Seine Lebensgefährtin sieht diese als das größte Übel der Impfungen an. Auch einige Mediziner sind der Meinung, dass diese Salze mehr Schaden verursachen können, als die Pharmaindustrie zugeben möchte. Eine andere Frage ist, inwiefern vor allem Lebendimpfstoffe auch langfristige unspezifische positive Effekte auf das Immunsystem haben können.
Der Film zeigt, wie unbeschreiblich weit die Spanne der Meinungen und auch Kenntnisstände bei Medizinern, Laien und Hebammen ist. Bei weitem nicht jeder Mediziner ist Impfbefürworter. Und doch zeigt sich gerade bei Masern und einem Ausbruch in Berlin, dass es auf das Individuum als Teil der Gemeinschaft ankommt. Säuglinge bis zum neunten Monat dürfen noch nicht dagegen geimpft werden.
Auf der Welle der anderen schwimmen
So mahnt ein Kinderarzt, dass die kleine Familie „auf der Welle“ der anderen Geimpften schwimme. Denn würden sie im nahen Umfeld wie vor Entdeckung der Impfungen zig Masern-, Mumps- oder Rötelnfälle erleben mit teils schwerwiegenden Folgen bis zum Tod, wäre ihre Haltung vermutlich anders. Auch de Rooij ist sich dieser Verantwortung bewusst, bleibt aber bei der Haltung, dass Nicht-Impfen für ihr eigenes Kind besser sei.
Sieveking macht aus seiner Unsicherheit keinen Hehl. Er sieht die Bedenken seiner Lebensgefährtin, aber die Sorge, damit einen großen, gefährlichen Fehler zu machen, wiegt schwer. Auch die Probleme häufen sich: So zögern die beiden, ihre Tochter wegen der Ansteckungsgefahr in eine Kita zu geben. Als de Rooji zum zweiten Mal schwanger ist, während in Berlin die Masern kursieren, trifft die Familie eine finale Impfentscheidung.
Ärzte betonen Bedeutung des Impfens
RKI, PEI, Kinder- und Jugendärzte und andere Institutionen nutzten den Film heute auch für die Gelegenheit, Fakten klarzustellen. Thomas Fischbach stellte klar, dass Impfungen zu den wichtigsten und wirksamsten Maßnahmen zum Schutz vor schweren Krankheiten wie zum Beispiel Diphtherie, Masern oder Kinderlähmung gehören. Auch würden alle in Deutschland zugelassenen Impfungen durch Experten des Paul-Ehrlich-Instituts und andere Arzneimittelbehörden in der EU eingehend wissenschaftlich untersucht, unabhängig geprüft überwacht – sowohl vor als auch nach der Zulassung. Darüber hinaus schützten flächendeckende Impfungen auch Menschen, die zum Beispiel wegen Abwehrschwäche nicht geimpft werden können. Impfen sei als „nicht nur Privatsache, sondern Gemeinschaftssache und Ausdruck praktizierter Sozialkompetenz“.
„Durch die weitgehend flächendeckende Anwendung von Impfstoffen ist es gelungen, die Pocken komplett von der Erde zu eliminieren, die Ausrottung der Kinderlähmung ist ein bereits fortgeschrittenes nächstes Ziel“, betonte PEI-Chef Klaus Cichutek. In manchen Kreisen verbreitete Theorien und Mythen über die Gefahren des Impfens seien durch objektive Fakten längst widerlegt. Wichtige Informationen über einen Impfstoff finde man beispielsweise in der Packungsbeilage.
RKI-Präsident Lothar Wieler stellte klar, dass Impfungen zu den wichtigsten und wirksamsten Maßnahmen zum Schutz vor schweren Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Diphtherie, Masern oder Kinderlähmung gehören. „Seit ihrer Einführung haben Impfungen Millionen von Todesfällen verhindert. Der Nutzen von Impfungen überwiegt eindeutig die Risiken; unerwünschte Nebenwirkungen werden bei modernen Impfstoffen nur selten beobachtet“, sagte er.
Impfungen seien in Deutschland freiwillig. Die Mehrheit der Eltern entscheide sich aber dafür: „Von den jährlich rund 650.000 auf ihren Impfstatus überprüften Schulanfängern haben je nach Impfung zwischen 84 und 97 Prozent die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen erhalten“, sagte Wieler.
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