Elektronische Patientenakte: Das berichten Ärztinnen und Ärzte aus den Testregionen

Berlin – Wenn es nach dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) und der Digitalagentur Gematik geht, dann startet der deutschlandweite Roll-out der neuen elektronischen Patientenakte (ePA) zu Beginn des zweiten Quartals. Das bedeutet, in knapp drei Wochen (ab April) könnte es bereits so weit sein, obwohl Ärztinnen und Ärzte aus den Testregionen vor einem verfrühten Start warnen. Der genaue Termin des Roll-outs stehe noch nicht fest, erklärte die Gematik auf Nachfrage.
Das Deutsche Ärzteblatt hat mit sechs Ärztinnen und Ärzten und einer medizinischen Fachangestellten (MFA), die seit Mitte Januar die ePA in Franken, Hamburg und Nordrhein-Westfalen (NRW) testen, über ihre Erfahrungen gesprochen. Bei einigen läuft es recht gut und flüssig, andere kämpfen noch mit technischen Herausforderungen. Trotz unterschiedlicher Erfahrungsberichte gibt es aber zwei Gemeinsamkeiten. Alle Medizinerinnen und Mediziner sind positiv überrascht bis begeistert von der elektronischen Medikationsliste (eML) und sehen aber einen zeitnahen bundesweiten Start der ePA kritisch.
„Die ePA ist ein Projekt für die Ewigkeit, deswegen sollte man den Roll-out jetzt nicht übers Knie brechen, sondern sich besser Zeit für einen guten Start der bundesweiten ePA nehmen“, sagt der Allgemeinmediziner Matthias Hempel in Detmold aus der Testregion NRW. Er warnt vor einem verfrühten Start, obwohl die Testphase bei ihm sehr gut läuft.
Hempel nennt sich selbst einen „Kolibri“ unter den Testpraxen. Bis Anfang März konnte er bereits rund 1.400 ePA fehlerfrei und umfänglich einsehen und befüllen. „Ich schätze bei mindestens zwei Drittel der Testpraxen in unserer Region aber auch in den anderen läuft es noch nicht so gut“, weiß Hempel aus dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Das hänge vor allem an den Praxisverwaltungssystemen (PVS), die teils noch keine benötigten Module bereitstellen. „Häufig gibt es auch noch technische Probleme bei den bereitgestellten Modulen.“ Er schätzt, etwa zehn Prozent der Testpraxen haben das Softwareupdate noch nicht.
Hempel befürchtet, dass viele PVS die ePA noch nicht verarbeiten können. Ein verfrühter Start würde zu großer Frustration mit der Telematikinfrastruktur (TI) führen. „Der E-Rezept-Start – bei dem damals wenig funktionierte und die Praxen in ihren Abläufen erheblich behindert worden sind – steckt vielen noch in den Knochen“, so Hempel. Deshalb sollte man auf die Testregionen hören und bundesweit erst starten, wenn diese grünes Licht geben.
Einstellen von Dokumenten gestaltet sich teils schwierig
So weit wie Hempel ist der Allgemeinmediziner Bahman Afzali am MVZ Hausarztmedizin Jakuttek in Bedburg (Testregion NRW) etwa noch nicht. Erst seit Anfang März funktioniere eigentlich alles so, wie es funktionieren sollte, so Afzali. „Bislang konnten wir etwa 200 ePA einlesen und befüllen, das sind rund zehn Prozent unserer Patienten.“ Er berichtet, dass nach der Bereitstellung des neuen Moduls zwar einige Dokumente in die ePA hochgeladen werden konnten. Bei anderen ging es nicht. Das Einstellen von eigenen Arztbriefen oder Laborbefunden sei zudem nach wie vor sehr schwierig.
„Nach einiger Zeit ging das Testen zeitweise nicht mehr“, erinnert sich Afzali. Grund hierfür waren neu programmierte Sicherheitsvorkehrungen, die aufgrund der durch den Chaos Computer Club entdeckten Sicherheitslücken nötig waren. „Diese hatten unser System aber für ein bis zwei Wochen komplett lahmgelegt.“ Seit einem kürzlich erfolgten PVS-Update kann Afzali weitertesten.
Afzali berichtet zudem davon, dass die ePA von einzelnen Krankenkassen nach wie vor nicht richtig funktionieren würden. „Bei etwa zehn bis 20 Prozent der Patienten wird uns gar keine ePA angezeigt.“ Deshalb notiere der Allgemeinmediziner nun genau, bei welchen Patienten und entsprechenden Krankenkassen das nicht funktioniere.
Zwar werde die eML bei ihm nur als Liste innerhalb eines PDF-Dokuments angezeigt. „Das ist bei anderen Systemen besser gelöst und direkt in die Medikationsübersicht im integriert.“ Trotzdem sei sie von Nutzen, sagt Afzali.
Von ersten positiven Anwendungsfällen berichtet auch der Hausarzt Nicolas Kahl aus Nürnberg (Testregion Franken). „So hatte uns eine Patientin von ihrer Parkinsonerkrankung berichtet, allerdings hatte sie vergessen welches Medikament sie einnimmt.“ Eine andere Patientin mit der Diagnose Mammakarzinom hatte vergessen, von ihrer Erkrankung zu berichten. „Wir haben dies aber aufgrund eines dispensierten Arzneimittels in ihrer Medikationsliste herausfinden können“, berichtet Kahl.
Die ePA laufe bei ihm stabil und er konnte bislang rund 700 ePA einsehen und befüllen. „Mit der Geschwindigkeit des Bedienens sind wir zufrieden“, erklärt Kahl weiter. Das Aufrufen der ePA liege bei ihm im einstelligen Sekundenbereich, das Hochladen von Dokumenten dauere ein bis sieben Sekunden. Zwar könne er auf die eML zugreifen und Arztbriefe hochladen. „Labordaten, Bilddaten, elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und eingescannte Dokumente können wir bislang noch nicht in die ePA laden“, erklärt Kahl. Hier müsse seine Software noch nachbessern.
Medikationsliste als Game Changer in der Versorgung
Begeistert von der eML ist auch die Hausärztin Annette Rennert aus Dortmund (Testregion NRW). „Die Daten werden automatisch über den E-Rezept Server aktualisiert. Ich kann darin sehen, welche Ärztinnen und Ärzte welches Arzneimittel verordnet haben und ob es eingelöst worden ist.“
Mit einem Klick könne sie die Informationen in ihre Medikationsliste übernehmen. Das sei gut gelöst, auch weil man nichts dafür tun müsse. Weil man damit Kenntnis über Erkrankungen und Medikation erhält, die man sonst vielleicht nicht hätte, könne das Menschenleben retten. „Das wird ein richtiger Game Changer in der Versorgung“, erklärt Rennert.
Zudem läuft die Testphase bei ihr problemlos. Allerdings blickt auch sie dem Roll-out, wie er jetzt geplant ist, kritisch entgegen. „Wenn Ärztinnen und Ärzte zur Nutzung der ePA gezwungen werden, funktioniert es nicht. Stattdessen müssen sie, etwa mit der Medikationsliste, vom Nutzen direkt überzeugt werden.“ Dann möchte auch kein Arzt mehr ohne die ePA arbeiten, ist Rennert überzeugt. Sie schlägt vor, die Einstell- und Kenntnisnahme-Pflicht für die bisher in der ePA zulässigen Dokumente einzuschränken. „Ich würde mir eine Patientenkurzakte wünschen, die direkt beim Öffnen der ePA anzeigt, welche Diagnose und Allergien ein Patient hat und welche Medikamente er einnimmt. Auch ein Notfalldatensatz mit Notfallkontakten wäre für unsere Arbeit hilfreich“, ergänzt sie.
Problematisch ist teils auch noch das Stecken der elektronischen Gesundheitskarte (eGK). „Wir haben bei uns in der Praxis Terminals, an denen sich die Patienten selbst anmelden können. Obwohl sie dort auch die eGK stecken, hat unser System diese Information nicht verarbeitet und wir konnten nicht auf die ePA dieser Patienten zugreifen“, erklärt Afzali. Deshalb müsse seine Praxis alle Patienten erneut einbestellen, um die Karten einzulesen.
Auch die MFA und Krankenpflegerin, Kathrin Kröger, die an der Rheumaambulanz am Marienkrankenhaus in Hamburg arbeitet, berichtet von einem zeitlichen Mehraufwand: „Um die ePA eines Patienten aufzurufen, muss ich die eGK ein zweites Mal stecken. Das klappt zudem oft nicht direkt, sondern erst nach mehreren Versuchen.“ Zudem müsse das Personal am Empfang jedes Mal aktiv daran denken, die ePA-Berechtigung einzuholen. „Dieser Vorgang müsste automatisch mit dem ersten Einlesen der eGK erfolgen“, schlägt Kröger vor.
Einfacher zu nutzen als das E-Rezept
Für die Ärztin Stefanie Tatsis, die ebenfalls an der Rheumaambulanz arbeitet, kostet es auch Zeit, sich durch die ePA zu klicken. „An den Schwierigkeiten, dass ich mich innerhalb der ePA mehrfach als Internistin und Rheumatologin identifizieren muss, hat sich noch nichts geändert.“ Sie hofft, dass dieser Prozess bald verbessert wird. Ihr Fazit ist aber durchweg positiv: „Ich wurde zu Beginn der Testphase zehn Minuten in die Nutzung und Funktion der ePA eingewiesen und würde sagen, es ist einfacher zu nutzen als das E-Rezept.“
Sie könne mittlerweile fast ausnahmslos die ePA aller Patienten befüllen. Bis Anfang März waren es rund 400 ePA, berichtet Tatsis. Und: „Insgesamt geht es schneller die ePA zu befüllen als einen elektronischen Arztbrief per KIM zu versenden. Das kann allerdings auch an unserem Programm liegen.“
Ähnlich gut läuft es bei der Hausärztin Melanie Rose von der Praxis „Medizin im Weserbergland“ in Beverungen (Testregion NRW). Anfangs gab es ein paar Probleme, diese konnte ihr PVS-Hersteller aber innerhalb weniger Wochen beheben, berichtet Rose. Das Handling der ePA sei einfach.
„Ehrlicherweise stellt die ePA für uns im Praxisalltag aber noch keinen Mehrgewinn dar, weil wir im Umkreis von 50 Kilometern die einzige Praxis sind, die an der Testphase teilnimmt“, erklärt Rose weiter. „Wir befüllen die Akte selbst und können nur die eigenen Dokumente einsehen und runterladen.“ Spannend werde es erst, wenn sie Befunde von Fachärztinnen und -ärzten sowie Kliniken einsehen könne. Dieses Problem mit noch wenigen bis keinen Befunden anderer Ärzte haben auch andere, etwa Kahl in Nürnberg oder Tatsis in Hamburg.
Um dies besser testen zu können, schlägt Rose vor, die Testphase zunächst in den drei Regionen zu erweitern und mehr Arztpraxen sowie Kliniken einzubeziehen. „Das hätte den Vorteil überprüfen zu können, ob das System auch bei verstärkter Nutzung und Auslastung weiterhin stabil läuft.“
Weitere Funktionen gefordert
Außerdem brauche es bald einen Medikamentenplan und eine Volltextsuche, um benötigte Informationen schneller zu finden, fordert Rose. Hausarzt Kahl aus Nürnberg wünscht sich zudem, dass zügig auch Betäubungsmittel per E-Rezept verschrieben werden könnten und somit in der eML auftauchen würden. Dies würde die Sicherheit der Arzneimittelversorgung erhöhen.
Ärztinnen und Ärzten fällt in der Testphase zudem auf, dass Patientinnen und Patienten kaum Bescheid über die ePA wüssten. „Sie wissen oft gar nicht, welche Neuerungen damit verbunden sind. Offenbar haben die Krankenkassen im Vorfeld nur ungenügende Aufklärungsarbeit geleistet“, sagt Rose. Diese Erfahrung machen auch die Allgemeinmedizinerin Rennert in Dortmund und die MFA Kröger. Auch sie bemängeln eine unzureichende Information der Versicherten durch die Krankenkassen. „Deshalb müssen wir hier viel Aufklärungsarbeit leisten“, sagt Kröger. Zur Erinnerung: Die Krankenkassen waren gesetzlich verpflichtet, ihre Versicherten zur Einrichtung der ePA im Opt-out-Verfahren über Informationsschreiben in Kenntnis zu setzen.
Neben der Auseinandersetzung mit der Technik müsse es den Testenden zufolge auch Ziel sein, zu prüfen, wie man die ePA in die Praxisabläufe integrieren kann. „Wir haben unseren Praxisablauf entsprechend angepasst und stellen Befunde erst nach dem Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten in die ePA ein“, berichtet Hempel. „Sonst könnte es passieren, dass sie Laborwerte vor dem Arztgespräch in ihrer ePA-App öffnen und beispielsweise pathologische Befunde einsehen und diese nicht einordnen können.“
Bis alle Testpraxen soweit sind, brauche es eben noch ein bisschen Zeit. „Den bundesweiten Roll-out nur aus politischem Enthusiasmus schnell durchziehen zu wollen, ergibt keinen Sinn“, betont Kahl. Wichtiger sei, die ePA jetzt sicher und ausreichend zu testen und erst dann bundesweit zu starten, wenn die technischen Voraussetzungen vorhanden sind. Sein Kollege Afzali hält es entsprechend für realistisch, dass der bundesweite Roll-out in einigen Monaten – etwa im Juli/August – starten könnte.
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