Erste EASD-Leitlinie schärft Bewusstsein für „Diabetes Distress“

Wien – Eine neue europäische Leitlinie will das Bewusstsein von Ärzten für „Diabetes Distress“ schärfen. Sie gibt sowohl Empfehlungen zum Erkennen von emotionalen Belastungen als auch zum Umgang damit.
Unter „Diabetes Distress“ verstehen Fachleute vereinfacht gesagt die emotionalen Belastungen, die durch das Leben mit Diabetes und durch die dafür notwendige Disziplin entstehen. „Diabetes Distress“ kann mit Gefühlen wie Schuld, Scham, Versagen, Selbstzweifel, Angst und Hoffnungslosigkeit einhergehen.
Die neue Leitlinie, hinter der die European Association for the Study of Diabetes (EASD) steht, bezieht sich sowohl auf Menschen mit Typ-1- als auch Typ-2-Diabetes.
Es ist das erste Mal, dass die EASD eine eigene klinische Praxisleitlinie herausgibt. Noch ist das Papier nicht final verabschiedet. Ein Entwurf wurde in dieser Woche auf dem EASD-Kongress in Wien vorgestellt. Bis Ende Oktober gibt es Konsultationen, danach soll die finale Version stehen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), die nicht an der Erstellung der Leitlinie beteiligt war, begrüßte den EASD-Vorstoß.
Einer der beiden zentralen Pfeiler der neuen Leitlinie ist, das Bewusstsein von Ärztinnen und Ärzten für „Diabetes Distress“ zu schärfen. Sie sind angehalten, ihre Patientinnen und Patienten routinemäßig nach emotionalen Belastungen in Verbindung mit ihrem Diabetes zu fragen.
Es wird empfohlen, bei jedem Termin die emotionale Seite des Diabetes zu thematisieren. Dazu sollen offene Fragen gestellt sowie zuverlässige Bewertungsinstrumente verwendet werden. Stellt der Arzt oder die Ärztin psychische Belastungen fest, sollten gemeinsam mit dem oder der Betroffenen die nächsten Schritte vereinbart werden, um eine individuell zugeschnitten Betreuung zu gewährleisten.
Der andere Pfeiler ist die Betreuung von Menschen mit „Diabetes Distress“. So werden abhängig vom Diabetestyp verschiedene Behandlungskonzepte empfohlen.
„Auch wenn noch Forschungslücken bestehen, unterstreicht die Leitlinie den Wert einer strukturierten Unterstützung – von Psychotherapien über Selbsthilfegruppen bis hin zu technologiebasierten Interventionen – für die Verbesserung des emotionalen Wohlbefindens und der Selbstfürsorge“, hieß es. Beim Umgang mit „Diabetes Distress“ unterscheidet die Leitlinie zwischen Diabetes Typ 1 und Typ 2.
Trotz enormer Fortschritte bei Therapien und Technologien habe sich die emotionale Belastung durch Diabetes nicht verringert, sagte EASD-Präsidentin Chantal Mathieu laut Mitteilung. „Diese Leitlinie trägt dieser Realität Rechnung und erinnert uns daran, dass eine gute Diabetesversorgung sowohl den Blutzuckerspiegel als auch die gelebte Erfahrung mit der Erkrankung berücksichtigen muss.“
Das Papier sei ein Meilenstein, um sicherzustellen, dass das emotionale Wohlbefinden zu einem zentralen Bestandteil der Diabetesversorgung wird, so Mathieu.
In einer Mitteilung hieß es, die erfolgreiche Umsetzung der Leitlinie erfordert Schulungen, Unterstützung auf Systemebene und die Integration in die Routineversorgung. Künftig soll es weitere klinische Leitlinien der EASD geben.
Andreas Fritsche, Past-Präsident der DDG, betonte, dass Patientinnen und Patienten von Anfang an aktiv an der Erstellung der neuen Leitlinie eingebunden waren. „Damit ist nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die Betroffenenperspektive abgebildet“.
Neu sei, dass es nicht nur um die Erfassung und Messung der psychischen Belastung durch Diabetes gehe, sondern die Leitlinie auch konkrete Wege aufzeigt, wie psychosoziale Maßnahmen in die klinische Versorgung zur Stress- und Belastungsreduktion integriert werden könnten.
„Bisher ist die Evidenzlage zwar nur moderat, weil Studien fehlen. Jetzt liegt aber immerhin ein internationaler Rahmen vor, auf dessen Basis neue Forschung entstehen kann“, sagte Fritsche.
Deutschland verfüge bereits über eine „hervorragende Grundlage, etwa mit der Praxisempfehlung ‚Psychosoziales und Diabetes‘ und der Praxisleitlinie Diabetes und Soziales (2024)“. Diese machten psychosoziale Belastungen sichtbar und böten konkrete Ansätze zu deren Bewältigung.
„Die neue EASD-Leitlinie bestätigt und ergänzt diese Arbeit und stärkt die europäische Perspektive. Sie legt zudem besonderen Wert auf Assessment und Management, was uns anspornt, die Erfassung psychosozialer Belastungen weiter zu verbessern.“
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