EU-Verhandlungen: Noch viel Zeit bis zu einem Ende der Zeitumstellung

Berlin/Brüssel – Wenn die Uhren in der Nacht zu übermorgen um eine Stunde vorgestellt werden, dann wird es nicht die letzte Zeitumstellung in der Europäischen Union sein – obwohl sich Millionen EU-Bürger für eine Abschaffung ausgesprochen haben. Ein entsprechender Vorschlag der EU-Kommission steckt seit fast sieben Jahren in den Brüsseler Verhandlungsrunden fest.
Der Gesetzesvorschlag stammt aus dem Jahr 2018, die letzte Stunde der Zeitumstellung sollte im darauffolgenden Jahr schlagen. Das Europaparlament stimmte sogar zu, verschob das geplante Ende aber auf 2021. Doch die EU-Länder im Rat der Mitgliedstaaten zogen nicht mit und legten die Pläne auf Eis.
In allen drei EU-Institutionen braucht es eine Mehrheit, um die Zeitumstellung abzuschaffen. Und ohne eine europäische Entscheidung will kein Land die Zeitumstellung eigenmächtig abschaffen, weil sonst ein Flickenteppich entstehen könnte. Der Gesetzesvorschlag ist einer der älteren noch offenen Verhandlungstexte in Brüssel – die meisten werden spätestens nach fünf Jahren Stillstand zurückgezogen.
Für den irischen Europaabgeordneten Sean Kelly ist es „an der Zeit“ für ein Ende der Zeitumstellung. „Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass eine halbjährliche Umstellung der Uhr schlecht für die menschliche Gesundheit, schlecht für Tiere und schlecht für den Straßenverkehr ist“, beklagt der konservative Politiker. „Und es ist einfach auch eine große Unannehmlichkeit.“
Auch die EU-Kommission will ihren Vorschlag noch nicht begraben. „Wir glauben, dass eine koordinierte Lösung immer noch möglich ist“, sagt die zuständige Kommissionssprecherin Anna-Kaisa Itkonen. Sie begrüßt, dass in den vergangenen Wochen wieder Gespräche unter den 27 EU-Ländern über die Zeitumstellung angelaufen sind.
Polen, das derzeit den Vorsitz im Rat der Mitgliedstaaten innehat, dämpft allerdings die Erwartungen. „Wir werden uns Zeit nehmen“, betonen die Verantwortlichen. „Wir planen eine informelle Befragung der Mitgliedstaaten, um festzustellen, ob der Vorschlag noch umsetzbar ist.“
Das Kernproblem der EU-Diskussion ist eine Uneinigkeit, welche Zeit sich überhaupt durchsetzen soll – die sogenannte Normalzeit, also die jetzt auslaufende Winterzeit, oder die Sommerzeit, bei der es abends länger hell ist. Ein Flickenteppich mit mehreren Zeitzonen soll vermieden werden.
Derzeit gibt es drei Zeitzonen in der EU: Irland und Portugal folgen der westeuropäischen Zeit, Deutschland und 16 weitere Länder der mitteleuropäischen und acht andere Länder der osteuropäischen. Insbesondere innerhalb der Länder mit Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) gehen die Meinungen auseinander. Das liegt unter anderem an der Größe der Zeitzone: In Bialstock im Osten Polens geht die Sonne derzeit mehr als zwei Stunden früher auf als in Santiago de Compostela im Westen Spaniens.
Zur Realität gehört auch, dass das Thema in kaum einem Land der EU so sehr die Gemüter bewegt wie in Deutschland: Allein drei Millionen der EU-weit 4,6 Millionen Teilnehmer an einer Onlinebefragung, die das Thema 2018 ins Rollen brachte, kamen aus der Bundesrepublik.
Wer auf eine Abschaffung der Zeitumstellung hofft, muss sich wohl noch gedulden. Ein litauischer Beamter beteuert, sein Land wolle das Thema oben auf die Tagesordnung zu setzen, wenn es den Vorsitz im Rat der EU-Mitgliedstaaten übernimmt. Litauen ist allerdings erst Anfang 2027 an der Reihe – bis dahin wird die Uhr mindestens noch drei Mal umgestellt.
Die Zeitumstellung selbst verschieben
Und bis dahin bleibt auch Zeit für neue Ideen. Zwei spanische Forscher schlugen nun vor, die Zeitumstellung selbst zu verschieben. Das erste April-Wochenende sei für das Umstellen im Frühjahr besser geeignet als der letzte Sonntag im März, sagten sie. Dann würden günstigere morgendliche Lichtverhältnisse für einen guten Start in den Tag erwischt.
Aus physiologischer Sicht wäre es zudem sinnvoll, die Sommerzeit in der EU Anfang statt Ende Oktober enden zu lassen. Starte die Sommerzeit zu früh, werde ein größerer Anteil der menschlichen Aktivitäten in die dunklen Morgenstunden verlegt, argumentieren die Forscher. Die Rückkehr zur Winterzeit sollte entsprechend erfolgen, bevor der Hauptaktivitätsbeginn vor Sonnenaufgang liege.
Über die Zeitumstellung werde derzeit falsch diskutiert, sind Jorge Mira von der Universität von Santiago de Compostela und José María Martín-Olalla von der Universität von Sevilla überzeugt: Der Lebensrhythmus der Menschen werde dadurch in Bezug auf die Sonne keineswegs verschoben, sondern im Gegenteil werde durch die Umstellung der morgendliche Beginn aller Aktivitäten wieder an den Sonnenaufgang angepasst, schreiben sie in der Fachzeitschrift Open Science der britischen Royal Society
Die spanische Nationalversammlung habe diese Art saisonaler Anpassung bereits im Jahr 1810 vorgenommen. „Das soziale Leben wird einfach umorganisiert, weil die Länge des Tages im Sommer es ermöglicht, die Dinge am Morgen früher zu erledigen als im Winter“, erklärte Martín-Olalla. „Das Problem ist, dass sie (die Zeitumstellung) in den letzten Jahren nur noch mit Energieeinsparung in Verbindung gebracht wurde, obwohl es sich in Wirklichkeit um einen natürlichen Anpassungsmechanismus handelt.“
Das belegten aktuelle und historische Beispiele von Gesellschaften mit späterer Aktivität im Winter und früherer Aktivität im Sommer, entsprechend der synchronisierenden Rolle des Morgenlichts für den Körper. Eine Analyse von schwedischen Daten aus dem Jahr 1746 zum Beispiel zeige, dass die Menschen im Sommer dreieinhalb Stunden eher aufstanden als im Winter.
Auch in tropischen Gesellschaften ohne Zugang zu künstlichem Licht lägen die Aufstehzeiten in der Regel in der Morgendämmerung, die Schlafenszeit in der Regel etwa drei Stunden nach Sonnenuntergang, erklärten Mira und Martín-Olalla. Der physiologische Tageszyklus des Menschen orientiere sich stets am Sonnenaufgang.
Für Menschen, die halbjährlich sehr unter der Zeitumstellung leiden, hat das spanische Forscherduo einen Rat: voranpassen. Der Wecker könne, jeweils drei Wochen vor dem Termin beginnend, wöchentlich um eine Viertelstunde in Richtung der „neuen“ Zeit verstellt werden.
In den vergangenen Jahren hatte es eine Reihe von Studien zu Folgen der halbjährlichen Zeitumstellung gegeben, etwa zu mehr Verkehrsunfällen in den Tagen danach und Gesundheitsproblemen wie zeitweisen Schlafstörungen und kurz erhöhten Herzinfarkt-Raten.
Der größte Nachteil der Zeitumstellung seien solche mit den Übergangszeiten verbundenen Probleme, sagen auch die spanischen Forscher. Eine wirklich relevante Gefahr sei aber nicht zu erkennen. Der kurzfristige leichte Anstieg des Risikos für Unfälle oder Herzinfarkte zum Beispiel sei gering verglichen mit dem Einfluss zahlreicher anderer Faktoren.
Vielfach sei zudem die Methodik solcher Studien fraglich, schreibt das Forscherduo. Stellungnahmen und Analysen etwa von Chronobiologen oder Schlafmedizinern seien oft ausschließlich auf Nachteile fixiert und ignorierten die heute oft vergessenen positiven Aspekte eines näher am Sonnenaufgang liegenden Arbeitsbeginns. Die Risiko-Nutzen-Bilanz werde verzerrt dargestellt.
Welche Folgen hätte ein Verzicht auf die Zeitumstellung?
Bei der Forderung nach einem Ende der Zeitumstellung sei zudem zu bedenken, dass die Abschaffung weit schlimmere Folgen haben könnte als die Umstellung selbst: Mit der Umstellung auf die Sommerzeit gewönnen die Menschen Tageslichtstunden für Freizeitaktivitäten, für Spaziergänge, Sport draußen oder ein paar Stunden am Strand – was Wohlbefinden und Gesundheit fördert. „Wenn der Tag gleichmäßig in Schlaf, Arbeit und Freizeit aufgeteilt ist, macht eine Stunde 12,5 Prozent der verfügbaren Freizeit aus.“
In einstigen medizinischen Stellungnahmen zur saisonalen Sommerzeit sei das dringende Bedürfnis der Menschen nach mehr Licht, Luft und Sonnenschein betont worden, heißt es in der Studie. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen habe vielfach im Vordergrund gestanden – und nicht etwa wirtschaftliche Fragen. Die Sommerzeit in Italien zum Beispiel sei 1964 begleitet von Bemerkungen über die psychologischen Verbesserungen eingeführt worden.
Ein weiterer Aspekt: Schlafmediziner plädierten zwar für eine Abschaffung der Sommerzeit, wie die Forscher ausführen. In der Bevölkerung sei die gängige Vorliebe aber eine andere: Viele Menschen liebten die jetzige Situation im Sommer und genössen ihre längere Freizeit bei Tageslicht. In Umfragen vor die Wahl zwischen dauerhafter Sommer- oder Winterzeit gestellt, setzen sie überwiegend auf erstere.
Doch auch eine ewige Sommerzeit widerspreche der menschlichen Physiologie, erklärte Mira. Mediziner weisen darauf hin, dass Menschen das blaue Licht der Sonnenstrahlung brauchen, um wach zu werden. Lehrerverbände kritisieren, dass Schüler ihren Schulweg ohne die Umstellung auf Winterzeit an wesentlich mehr Tagen im Dunklen zurücklegen müssten. Letztlich sei eine Entscheidung zwischen ewiger Sommer- oder ewiger Winterzeit so, als ob man wählen wolle, auch im Winter Sandalen oder Stiefel selbst im Sommer zu tragen, so die Forscher.
Max-Planck-Forscher haben hingegen erst jüngst wieder aus gesundheitlichen Gründen für ein dauerhaftes Beibehalten der derzeit geltenden Normalzeit plädiert. In den Tagen nach der in der Nacht zu übermorgen anstehenden Umstellung aus Sommerzeit steige die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkte um 24 Prozent, die für Verkehrsunfälle um etwa sechs Prozent, erklärte die Max-Planck-Gesellschaft. Mit der Zeitumstellung werde die innere Uhr aus dem Takt gebracht.
Die Chronobiologe Manuel Spitschan vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen verwies darauf, dass ins Auge fallendes Licht in Nervenimpulse umgewandelt an die im Gehirn sitzende innere Uhr weitergeleitet wird. „Für unseren Körper ist und bleibt die Sonnenzeit das entscheidende Signal.“
Es seien Konflikte vorprogrammiert, wenn Lichtsignale und die sozial festgelegte Uhrzeit nicht miteinander synchronisiert seien. Wenn die Menschen plötzlich eine Stunde früher aufstehen müssen, sei dies wie ein sozial bedingter Jetlag, erklärte Wissenschaftler Spitschan weiter.
Besonders Menschen mit Schlafstörungen oder chronischen Krankheiten würden bei Zeitumstellungen überdurchschnittlich stark leiden. Die Zeitumstellung sei ein komplett menschengemachtes Problem. Physiologisch wäre es schlauer, einfach die Winterzeit beizubehalten, erklärten die Max-Planck-Forscher.
Eine große Mehrheit der Deutschen ist gegen die am kommenden Wochenende anstehende Zeitumstellung. In einer von der Krankenkasse DAK in Hamburg veröffentlichten Forsa-Umfrage lehnten 70 Prozent der Befragten die Zeitumstellung ab. In der Altersgruppe der über 60-Jährigen ist mit einem Anteil von 78 Prozent die Ablehnung demnach besonders groß. Ein Drittel von ihnen hat laut Umfrage infolge des Drehs an der Uhr gesundheitliche Probleme.
In diesem Jahr werden die Uhren am 30. März um eine Stunde vor- und am 26. Oktober wieder zurückgestellt.
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