Vermischtes

Evangelische Kirche: Bericht erfasst Tausende Missbrauchsfälle

  • Donnerstag, 25. Januar 2024
Martin Wazlawik, Koordinator des Forschungsverbundes „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ übergibt eine Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche an Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD. /picture alliance, Julian Stratenschulte
Martin Wazlawik, Koordinator des Forschungsverbundes „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ übergibt eine Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche an Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD. /picture alliance, Julian Stratenschulte

Hannover – Mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter hat eine Untersuchung zu sexualisier­ter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie für die vergangenen Jahrzehn­te dokumentiert. Der Abschlussbericht wurde heute in Hannover vorgelegt.

Studienleiter Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover sprach davon, dass die Untersuchung nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ zeige. „Das bitte ich bei der Einordnung der Zahlen und Befunde zu beachten.“ Betroffene mahnten an, die Aufarbeitung von Fällen und Strukturen stärker voranzutreiben – auch mithilfe des Staates.

„Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber“, sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes.

Es brauche externe Fachleute und Beschwerdestellen, Aufarbeitung sei die Königsdisziplin. Aus ihrer Sicht fehle in den Landeskirchen aber Kompetenz und vermutlich auch Interesse, Fälle tatsächlich aufzudecken. „Wenn solche Nachforschungen nicht unternommen werden, bleiben Täter unentdeckt.“

Die in der Untersuchung ermittelten Fallzahlen von 2.225 Betroffenen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannte Fälle ein.

Die Wissenschaftler konnten aber nicht alle Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten. Auf Grundlage ihrer Methode kamen die Experten auf eine geschätzte Gesamt­zahl von 3.497 Beschuldigten. Die präsentierten Zahlen würden das Ausmaß aber „deutlich unterschätzen“, sagte Wazlawik. Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert.

Es könnten „keinerlei Vergleiche“ mit der katholischen Kirche oder anderen Institutionen gezogen werden, betonte Wazlawik. „Die Zahlen legen in keiner Weise eine geringere Zahl an Beschuldigten in der evangeli­schen Kirche und Diakonie nahe.“

Eine 2018 veröffentlichte Studie zu sexualisierter Gewalt in der katholi­schen Kirche ergab: Nach der Aus­wertung von fast 40.000 Personalakten aus der Zeit zwischen 1945 und 2014 wurden 1.670 katholische Priester und Diakone beschuldigt, denen 3.677 Kinder und Jugendliche als Betroffene zugeordnet werden konnten. Damals betonten die Wissenschaftler, dass die Zahl „eine untere Schätzgröße“ sei.

Die heute vorgelegte Studie komme zwar spät, sie sei aber wichtig für die Betroffenen, da diese in die Unter­suchung einbezo­gen worden seien, sagte Kracht. Sie bemängelte aber, dass die evangelische Kirche längst hätte handeln können. Die Studie könne daher nur ein Anfang sein. „Wenn die EKD sich jetzt wieder in die Hinterzimmer zurückziehen will, bis zur Synode, ist das eine derbe Enttäuschung für die vielen Betroffenen.“ Es dürfe nicht noch mehr Zeit vertrödelt werden. „Es ist genug, es ist schon lange genug.“

Sie selbst habe in ihrem Fall jahrelang auf Aufklärung warten müssen. Kracht war in den in den 1980er- und 1990er-Jahren von einem evangelischen Pastor im niedersächsischen Nenndorf bei Hamburg schwer sexuell missbraucht wurde. Wie sich erst spät herausstellte, hatte der 2013 gestorbene Pfarrer sowohl in Nenndorf als auch in seiner vorigen Kirchengemeinde in Wolfsburg weitere Mädchen missbraucht.

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs bat bei der Vorstellung der Studie die Betroffenen um Entschuldigung. „Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht“, sagte die Hamburger Bischöfin. Sie könne nur „von ganzem Herzen“ um Entschuldigung bitten.

Das Gesamtbild, das die Studie zeige, habe sie „zutiefst erschüttert“: „Immer wieder neu, seit ich mich mit dem Thema befasse, erschüttert mich aufrichtig diese abgründige Gewalt, die so vielen Menschen in unserer Kir­che angetan wurde“, sagte sie. Die Kirche werde die Ergebnisse mit Demut annehmen.

Fehrs Vorgängerin Annette Kurschus war im vergangenen November als EKD-Ratsvorsitzende und Präses der Landeskirche von Westfalen zurückgetreten. Hintergrund waren Vorwürfe, Kurschus habe vor vielen Jahren vom Verdacht sexuell übergriffigen Verhaltens gegen einen damaligen Kirchenmitarbeiter im Kirchenkreis Siegen gewusst.

Kurschus streitet die Vorwürfe ab, sagte aber, dass sie den Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht mit Schlag­zeilen durch einen Verbleib im Amt schaden wolle. In der Vergangenheit war mehrfach Kritik an der schlep­pen­den Aufarbeitung von Missbrauch bei den Protestanten laut geworden.

Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert. Ziel war, evangelische Strukturen zu analysieren, die Gewalt und Macht­missbrauch begünstigen. Finanziert wurde die Untersuchung mit 3,6 Millionen Euro. Als Dachorga­nisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit 19,2 Millionen evangelische Christinnen und Christen.

Betroffene sexualisierter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuelle freiwillige Leistungen stellen. Diese orientieren sich laut EKD an Schmerzensgeldzahlungen und liegen in der Regel zwischen 5.000 und 50.000 Euro. Bis Ende 2022 hatten die Landeskirchen der EKD 858 Anträge auf derartige Anerkennungs­leistungen gemeldet.

Der Psychiater Harald Dreßing als Teil der Forschungsgruppe kritisierte die „schleppende Zuarbeit der Landes­kirchen“. Dies habe zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung geführt, teils seien auch „qualitativ unzurei­chen­de Daten“ übermittelt worden, sagte er.

„Wir haben keine Wünsche geäußert, sondern wir hatten ein Forschungsdesign, was wir auch von Anfang an klar kommuniziert haben und wozu sich die evangelische Kirche auch vertraglich verpflichtet hat.“ Dazu zähl­te demnach eine systemische Personalaktenanalyse. Das habe nicht vollständig umgesetzt werden können.

dpa

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