Ärzteschaft

Expertengruppe für NO-COVID-Strategie gegen „Jojo-Lockdown“

  • Montag, 1. Februar 2021
/picture alliance, Sven Simon, Frank Hoermann
/picture alliance, Sven Simon, Frank Hoermann

Berlin – Eine Gruppe von Wissenschaftlern, Medizinern und Ökonomen hat einen Strategiewechsel im Umgang mit der Coronapandemie angeregt. Anstatt weiterhin auf Mitigation zu setzen, plädieren die Experten für die Umsetzung eines NO-COVID-Ziels sowie die Einführung von „Grünen Zonen“, in denen dann Lockerungen möglich wären.

Die vorgestellte Strategie zielt darauf ab, Neuinfektionen, Todesfälle und weitere bundesweite Lock­downs zu vermeiden. Sie besteht aus drei Kernelementen: einem schnellen Absenken der Infektionszah­len auf null, die Vermeidung der Wiedereintragung in hierdurch errichtete Grüne Zonen durch lokale Mo­bilitätskontrollen, Tests und Quarantänen und ein rigoroses Ausbruchsmanagement bei sporadischem Auftreten neuer Fälle.

In mehreren Ländern sei eine solche Strategie bereits erfolgreich angewendet worden und habe der Be­völkerung eine weitgehende Rückkehr zur Normalität erlaubt, heißt es in dem von der Gruppe veröffent­lichten Strategiepapier. Mit dem derzeitigen Rückgang der Fallzahlen um etwa 18 Prozent pro Woche stellt sich etwa ab der zweiten Februarhälfte beim Unterschreiten der Schwelle von 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern die Frage nach dem weiteren Vorgehen in der Pandemie.

„Im Moment fahren wir die Wirtschaft an die Wand und haben trotzdem hohe Fall- und Todeszahlen“, sag­te Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln und einer der Unterzeichner des Papiers heute bei einer Pressekonferenz. Und das werde so bleiben, wenn der Lock­down nach dem Erreichen des derzeitigen Ziels von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zu schnell beendet werde. Dies gelte insbesondere in der durch neue Virusmutationen zugespitzten Pande­mielage.

Die australische Stadt Melbourne sei ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit einem strikten Lockdown über einige Wochen eine Neuinfektionszahl von unter zehn erreichen lasse. Und auch nach der ersten Welle sei in Deutschland eine Inzidenz von 2,5/100.000 pro Woche erreicht worden. Es sei also möglich. Hallek sprach sich dafür aus, durchaus „ein bisschen positiven Wettbewerb zwischen Städten und Regio­nen“ zu schaffen.

„Im Moment sind wir immer langsamer als die Pandemie“, sagte Dirk Brockmann, Leiter der Forschungs­gruppe für komplexe Systeme an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aus Modellierersicht müsse man „schneller, geografisch gezielter und früher“ reagieren, um in der Zeitskala vor das Virus zu rücken.

Das freiwillige Schutzverhalten in der Bevölkerung nimmt ab

Auch für Cornelia Betsch, Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Er­furt und Initiatorin des Projekts COVID-19 Snapshot Monitoring (COSMO) böte ein Strategiewechsel Vor­teile: Wir beobachten in der zweiten Welle „weniger freiwilliges Schutzverhalten, insbesondere bei den Jüngeren“ als noch im Frühjahr, berichtete sie. Auch das Vertrauen in die Bundesregierung habe abge­nommen.

Ein klares Ziel helfe, sich an Regeln zu halten, deshalb könnte ein Strategiewechsel zu NO-COVID oder einem anderen Stufenplan einen „Motivationspush“ bedeuten. NO-COVID führe heraus aus den Zyklen der (Wieder)einführung und Aufhebung von Verboten und Grundrechtseinschränkungen. Sie zeige den Bürgern eine Perspektive auf, sich aus dem Jojo-Lockdown zu befreien, sagte Hallek.

Ein zentrales Element der von der Gruppe vorgeschlagenen NO-COVID Strategie sind die Grünen Zonen. Dabei handelt es sich um Regionen, in denen die Inzidenz durch einen Lockdown bis auf zehn und dann bis auf null gedrückt. Die australische Großstadt Melbourne habe für die Reduktion von zehn auf null ca. drei bis vier Wochen benötigt. Auch in Deutschland sei im Sommer bereits eine Inzidenz von 2,5 erreicht gewesen.

Grenzschließungen können vermieden werden

Dass ein solches Modell von einer „Insel“ wie Australien auf das zentral in Europa gelegene Deutschland übertragbar sei, sehen die Experten als „gegeben an, da auch große urbane Ballungsräume von COVID-­19 befreit werden konnten“. Hallek räumte ein, dass die praktische Umsetzung der NO-COVID-Strategie eine „harte Nuss“ sei. Dennoch könne sich das Prinzip der Freizügigkeit im Schengen-Raum mit der NO-COVID-Strategie vertragen.

Brockmann erklärte dazu, dass in Phasen einer schnellen und unkontrollierten lokalen Ausbreitung der Effekt von Grenzschließungen und Reisebeschränkungen sowieso marginal wäre. Zum jetzigen Zeit­punkt, zu dem das Infektionsgeschehen in den meisten europäischen Ländern vergleichbar dramatisch sei, könnten die innereuropäischen Grenzen offen bleiben.

„Für das Gelingen des Grüne-Zonen-Konzepts ist ein Schließen der innereuropäischen Grenzen nicht zwingend notwendig“, heißt es in dem Papier. Allerdings müsse der Wechsel der Bundesrepublik zu einer NO-COVID-Strategie mit einem Appell an andere europäische Regierungen als auch an die europäischen Bevölkerungen appelliert werden, Reiseaktivitäten auf das Nötigste zu beschränken.

In dem Papier heißt es weiter, dass zum Erhalt der Grünen Zonen an strategischen Einrichtungen mit hohem Publikumsverkehr getestet werden(„Freitesten“) müsse. Die Öffnung des öffentlichen Lebens müsse langsam und nach klar definierten Schritten erfolgen. Und sollte es zum Wiederaufflammen des Infektionsgeschehens kommen, müssten die Maßnahmen schnelle und lokal begrenzt wieder eingeführt werden.

Hallek betonte, dass zur Umsetzung der NO-COVID-Strategie ein deutlich intensiviertes Testgeschehen und ein besseres Tracking notwendig sei. Beides erfolge bisher nicht effizient genug. „Derzeit dauert es von Ansteckung, Kontaktnachverfolgung und Test bis zur Isolation neun Tage“, berichtete er. „Das müssen wir in einer höheren Geschwindigkeit schaffen.“ Eine „Toolbox“ von Maßnahmen, die die Politik ergreifen muss, um einen NO-COVID-Strategie umzusetzen, will die Gruppe bis Mittwoch vorlegen.

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