Medizin

Fukushima: Erhöhte Rate von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen

  • Freitag, 9. Oktober 2015
Uploaded: 09.10.2015 17:31:18 by mis
Das Atomkraftwerk Fukushima im März 2015 dpa

Okayama – Ein von der japanischen Regierung nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima vom März 2011 initiiertes flächendeckendes Screenings-Programm hat bis Ende 2014 zur Diagnose von 110 Schilddrüsenkarzinomen bei Kindern und Jugendlichen geführt. Dies bedeutet nach einer Studie in Epidemiology (2015; doi: 10.1097/EDE.0000000000000385) einen bis zu 50-fachen Anstieg der Inzidenz, auch wenn sich ein Screenings-Effekt nicht ganz ausschließen lässt.

Schon bald nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 war es zu einer Häufung von Schilddrüsenkarzinomen bei Kindern und Jugendlichen gekommen. Sie werden mit die Freisetzung der radioaktiven Isotope Jod131, Caesium 134 und 137 in Verbindung gebracht, die sich in der Schilddrüse anreichern. Das Drüsengewebe von Kindern und Jugendlichen gilt als besonders empfindlich. Außerdem kommt es in diesem Alter sonst nur sehr selten zu Krebserkrankungen, was eine kausale Zuordnung erleichtert.

In Kenntnis dieser Zusammenhänge hat die japanische Regierung nach dem Fukushima-Unglück ein Screeningprogramm gestartet. Alle 367.687 Einwohner, die zum Zeitpunkt der Explosionen jünger als 18 Jahre waren, erhielten eine Einladung, der 298.577 Kinder und Jugendliche bis Ende 2014 folgten. Bei 2.251 wurde in der Ultraschalluntersuchung ein verdächtiger Befund registriert, 2.067 nahmen an den Folgeuntersuchungen teil, die zur Diagnose von 110 Schilddrüsenkarzinomen geführt haben.

Von diesen wurden 87 bis Ende 2014 operiert: 83 hatten ein papilläres Schilddrüsen­karzinom, drei ein undifferenziertes Karzinom. Bei einem Patienten stellte sich der Tumor als gutartig heraus. Insgesamt 40 von 54 Patienten (74 Prozent), die am Fukushima Medical University Hospital operiert wurden, hatten bei der Operation einen Befall der Lymphknoten.

Um den Einfluss der Reaktorkatastrophe auf die Krebserkrankungen zu berechnen, führten Toshihide Tsuda von der Universität Okayama und Mitarbeiter einen externen und einen internen Vergleich durch. Im externen Vergleich wurden die Diagnosen mit den Erkrankungsraten der japanischen Bevölkerung verglichen. Diese Inzidenzrate (Incidence Rate Ratio, IRR) betrug 50 und war mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 25 bis 90 statistisch signifikant. Sie besagt, dass nach der Reaktorkatastrophe im radioaktiv kontaminierten Gebiet 50 Mal mehr Schilddrüsenkarzinome diagnostiziert wurden als im Rest von Japan.

Diese Zahl ist vermutlich zu hoch gegriffen, da das Screening zur Entdeckung von Tumoren führt, die möglicherweise niemals symptomatisch werden. Diese Überdiagnose ist beim Schilddrüsenkarzinom besonders ausgeprägt. So hat die Einführung eines Ultraschallscreenings in Südkorea zu einem 15-fachen Anstieg der Diagnosen und Behandlungen geführt, ohne dass die Sterblichkeit gesunken wäre. Das Screening betraf allerdings ältere Altersgruppen und die Überdiagnose dürfte bei Kindern weniger ausgeprägt sein. Die Tatsache, dass 74 Prozent der operierten Kinder bereits einen Befall der Lymphknoten hatten, spricht gegen die Entdeckung allzu vieler harmloser Tumore, die ohne ein Screening niemals symptomatisch geworden wären.

In dem zweiten internen Vergleich haben die Forscher die Zahl der Diagnosen in den am meisten exponierten mit den am wenigsten exponierten Regionen der Präfektur Fukushima gegenübergestellt. Dies vermeidet einen Screening-Bias, da ja in allen Regionen die gleiche Früherkennung durchgeführt wurde.

Tatsächlich ist die Prävalenzrate (prevalence odds ratio, POR) mit 2,6 deutlich geringer als die IRR (und mit einem 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,99 bis 7,0 wurde auch das Signifikanzniveau verfehlt). Da jedoch anzunehmen ist, dass der radioaktive Fallout auch in den schwächer exponierten Regionen einige Schilddrüsenkarzinome induziert hat, dürfte die POR das Erkrankungsrisiko unterschätzen. Das tatsächliche Ausmaß dürfte irgendwo zwischen der POR und der IRR liegen.

Da es in Tschernobyl auch vier und fünf Jahre nach dem Unglück noch zu einem deutlichen Anstieg der Neuerkrankungen gekommen ist, dürfte sich die Zahl der Erkrankungen in den nächsten Jahren weiter erhöhen. Tsuda berichtet, dass inzwischen noch neun weitere Erkrankungen hinzugekommen sind. Davon entfielen sieben auf eine zweite Screening-Runde, die inzwischen angelaufen ist.

rme

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