Politik

G-BA-Vorsitzender Hecken fordert Abbau von Überversorgung in Städten

  • Montag, 15. Oktober 2018
Feierabendverkehr auf der Leipziger Straße in Berlin /dpa
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Berlin – Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Josef Hecken, hat einen Abbau von Überversorgung im ambulanten Bereich gefordert. „Die Politik muss sich ernsthafter als in der Vergangenheit mit der Frage beschäftigen, wie es gelingen kann, die Überversorgung dort, wo sie ohne Zweifel besteht, abzubauen“, sagte Hecken heute bei der Vorstellung eines neuen Gutachtens zur Bedarfsplanung in Berlin.

Zum Beispiel in Städten wie München oder Berlin hätten sich viele Ärzte in attraktiven, deutlich überversorgten Stadtteilen niedergelassen und könnten ihren Arztsitz weitervererben oder -verkaufen. So verteilten sich die Ärzte in Berlin sehr unterschiedlich, sagte Hecken.

„Wenn man in Mitte wohnt, hat man kein Problem, eine ärztliche Versorgung zu bekommen. In Reinickendorf ist es schon etwas problematischer. Richtig problematisch wird es in Marzahn.“ Trotz der statistischen Überversorgung innerhalb des Planungs­bezirks Berlin gebe es also zwischen den Stadtteilen signifikante Unterschiede in der Versorgung.

Hecken wies darauf hin, dass es seit der letzten Novellierung der Bedarfsplanungs-Richtlinie durch den G-BA die Möglichkeit gebe, die Planungsbezirke vor Ort anders zuzuschneiden sowie eigene Verhältniszahlen zu bestimmen. Dies sei in Berlin jedoch nicht geschehen. Denn das hätte politische Implikationen nach sich gezogen, so Hecken. Da sei es leichter, auf den G-BA zu schimpfen.

Neuberechnung der Verhältniszahlen

Zwei Jahre nach der Neuordnung der Bedarfsplanung durch den G-BA zum Jahr 2013 hatte der Gesetzgeber dem Ausschuss im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz eine neuerliche Umgestaltung der Bedarfsplanung in Deutschland aufgetragen, die sich unter anderem an der Sozial- und Morbiditätsstruktur der Bevölkerung ausrichten sollte. Um eine wissenschaftliche Grundlage dafür zu erhalten, gab der G-BA ein Gutachten in Auftrag, das nun vorliegt.

Die Gutachter empfehlen darin unter anderem eine Neuberechnung der Verhältnis­zahlen zwischen Arzt und Patient auf der Grundlage einer Bedarfsanalyse sowie die Einbeziehung von Mitversorgereffekten aus dem Umland. Den Gutachtern zufolge seien auf der Grundlage der neuen Verhältniszahlen in Deutschland zum Beispiel 1.400 Hausärzte nötig, um einen Versorgungsgrad von 100 Prozent zu erhalten. Unter Berücksichtigung der Mitversorgereffekte müssten es 4.098 sein.

„Schon heute, Stand 2017, haben wir 3.082 Arztsitze, die nicht besetzt sind“, erklärte Hecken. „Alleine in der hausärztlichen Versorgung sind es 2.636.“ So groß seien demnach die Unterschiede zwischen der aktuellen Bedarfsplanung und den Vorschlägen aus dem Gutachten nicht.

Dennoch „enthält das Gutachten eine Vielzahl von Ideen und Modulen, die am Ende geeignet sind, zu einem komplexen Gesamtkonstrukt zusammengeführt zu werden“. Dann könnten die Morbidität und die Versorgungsbedarfe hoffentlich angemessen abgebildet werden. „Damit wären wir dann aber nur bei einer Zwischenstation“, so der G-BA-Vorsitzende. „Denn dann beginnt das große Problem: Wir haben zwar mehr Zulassungsmöglichkeiten, aber wir wissen nicht, woher wir die Ärzte nehmen sollen.“

"Dramatische Altersabgänge kommen auf uns"

Das Problem verschärfe sich, wenn man die Altersstruktur der Ärzte betrachte. Demnach seien 22.330 Vertragsärzte und -psychotherapeuten Ende 2017 zwischen 60 und 65 Jahren alt gewesen. Weitere 11.128 seien bereits über 65 Jahre alt. „Es kommen also dramatische Altersabgänge auf uns zu, die zusätzlich ersetzt werden müssen“, so Hecken. „Wenn wir es nicht schaffen, die zum Teil signifikante Überversorgung in Ballungszentren, die eine angebotsinduzierte Nachfrage nach sich zieht, zu beseitigen, werden wir das Potenzial nicht haben, um Arztsitze auf dem Land zu besetzen.“

Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg, Walter Plassmann, war allerdings anderer Meinung. „Der Glaube, dass man durch Wegnahme von Arztsitzen in überversorgten Regionen in anderen Gebieten Versorgung schaffen kann, ist ein Irrglaube“, sagte er.

KV Hamburg: Nicht nur Köpfe zählen

Dem G-BA bleibt nun bis zum 30. Juni Zeit, eine Neufassung der Bedarfsplanungs-Richtlinie vorzulegen. „Wir sind uns dessen bewusst, dass uns das Gutachten nicht der Aufgabe enthebt, am Ende des Tages eine normative Entscheidung zu treffen“, sagte Thomas Uhlemann, Leiter des Referats „Bedarfsplanung, Psychotherapie und neue Versorgung“ beim GKV-Spitzenverband. „Die Frage, wie viele Ärzte und Psycho­therapeuten für die Versorgung angemessen sind, bleibt eine gesellschaftliche Entscheidung, die aber nicht willkürlich getroffen werden darf.“

Plassmann von der KV Hamburg erklärte, welche Vorschläge aus dem Gutachten aus seiner Sicht umgesetzt werden sollten. „Sehr gut finden wir die Vorschläge, dass wir bei der Kapazitätsplanung nicht allein die Köpfe zählen dürfen“, betonte er. „Es gibt heute schon viele Untersuchungen, dass angestellte Ärzte eine niedrigere Kapazität aufweisen als selbstständig tätige Ärzte.“ Auch die Aufnahme von Morbiditätskriterien in die Verhältniszahlen sei sinnvoll.

G-BA soll Quoten bilden dürfen

Dieser Meinung war auch Thomas Uhlemann vom GKV-Spitzenverband. „Wir werden etwas machen bei der Demografie und der Morbidität“, prognostizierte er. Bei der letzten Novellierung war der Demografiefaktor in der Bedarfsplanung von 60 auf 65 Jahre erhöht worden. „Das werden wir sicherlich feiner fassen“, so Uhlemann. Auch bei der Quotenbildung werde sich etwas verändern.

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) will es die Bundesregierung dem G-BA ermöglichen, Untergruppen großer Facharztgruppen zu bilden und zu quotieren. Hecken nannte ein Beispiel: „Bei den Internisten gibt es verschiedene Untergruppen, und es kommt heute vor, dass bei der Freiwerdung eines internistischen Arztsitzes eine Untergruppe den Sitz bekommt, die in keinem Verhältnis zum medizinischen Bedarf der Bevölkerung steht.“

Zum Beispiel komme es vor, dass ein Kardiologe einen internistischen Arztsitz erhalte, obwohl in der Region ein Rheumatologe dringender gebraucht werde. „Deshalb fordern wir schon lange, Unterquoten bilden zu können, denen zufolge es zum Beispiel maximal 30 Prozent Kardiologen in einer internistischen Gruppe geben darf“, so Hecken.

Vorsichtig mit Änderungen umgehen

Uhlemann erklärte, dass es aus seiner Sicht auch bei der Erreichbarkeit Änderungen geben soll. Das Gutachten hatte ergeben, dass derzeit 99 Prozent der Bevölkerung innerhalb von 15 Minuten einen Hausarzt erreichen können. „Die Frage ist nun, wie viel man investieren soll, um auch dem letzten Prozent der Bevölkerung einen Zugang zum Hausarzt innerhalb von 15 Minuten zu ermöglichen“, so Uhlemann.

Für ihn sei überraschend gewesen, wie gut die ambulante Versorgung im interna­tionalen Vergleich dastehe. Eine entsprechende Analyse ist in dem Gutachten enthalten. Das mache deutlich, „dass wir mit der aktuellen Bedarfsplanung gar nicht so verkehrt liegen“, so Uhlemann. „Wir müssen also vorsichtig mit Änderungen der Bedarfsplanung umgehen.“ Nicht mit einbezogen werden sollte aus seiner Sicht der Vorschlag, Mitversorgereffekte in anderen Planungsbereichen mit einzubeziehen.

Der Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren bei der Bedarfsplanung, wie sie der Gesetzgeber gefordert hatte, wird von den Gutachtern eine Absage erteilt. „Wir müssen nun entscheiden, wie wir damit umgehen sollen“, so Uhlemann.

Länder wollen flexibel entscheiden können

Gabriele Hörl, Leiterin der Abteilung „Gesundheit, Gesundheitspolitik und Krankenversicherung“ im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, forderte, dass Kinderärzte künftig kleinräumiger auf der Ebene von Mittelbezirken beplant werden müssten. „Die Unmutsäußerungen von Familien nehmen zu, dass sie keine Kinderärzte mehr finden“, sagte sie. „Und diese Äußerungen treffen die Politik, nicht den G-BA. Deshalb ist es richtig, dass die Länder sich jetzt an den G-BA-Entscheidungen beteiligen.“

Auch die Möglichkeit für regionale Abweichungen müsse bei der Bedarfsplanung weiter bestehen bleiben. „Die Länder bitten den G-BA, Rahmenvorgaben zu setzen, die in den Ländern flexibel und rechtssicher angewandt werden können“, so Hörl.

fos

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