Geschlechtsdysphorie: Jugendpsychiater kritisieren Leitlinienentwurf

Berlin – Die kürzlich vorgestellte S2k-Leitlinie zur „Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ sieht sich der Kritik von 15 einzelnen Fachleuten aus verschiedenen Universitätskliniken ausgesetzt.
Die geplante Leitlinie (AWMF-Registernummer: 028-014) ist aktuell zur Kommentierung von Fachgesellschaften und Fachgremien freigegeben. Die 15 Expertinnen und Experten haben eine 111 Seiten umfassenden Stellungnahme veröffentlicht. Darin fordern sie eine Überarbeitung der Leitlinie durch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).
Florian D. Zepf, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik in Jena, hatte dieses Papier im Namen der Gruppe vor einigen Tagen in einer Email der Leitlinienkommission vor Ablauf der Kommentierungsfrist übersandt. Das Papier (Stand 16. April 2024) – das dem Deutschen Ärzteblatt in voller Länge vorliegt – soll demnächst in kondensierter Kurzfassung veröffentlicht werden.
Das Konvolut der 15-köpfigen Gruppe hält sich bewusst nicht an die „Vorgabe“, die am 18. März begonnene fachöffentliche Diskussionsphase solle „ausschließlich der redaktionellen Verbesserung“ des aktuellen Entwurfes dienen. Dass man inhaltliche Änderungsvorschläge nicht wünschte, wurde damit begründet, die Aussagen der Leitlinie seien sämtlich mit starkem Konsens (> 95% bzw. 100%) verabschiedet worden.
In der jetzt formulierten Kritik wird allerdings betont, dass „der aktuelle Leitlinienentwurf gerade auch im Kontext eines profunden Kinder- und Jugendschutzes unter Berücksichtigung der aktuellen medizinischen Evidenz gründlich überarbeitet werden“ müsse.
Es sei nicht gerechtfertigt nur noch redaktionelle Anmerkungen seitens der Lehrstuhlinhaber zuzulassen, da „in den letzten Jahren unser Fach über Fragen rund um diese Leitlinie tief gespalten gewesen“ sei, heißt es in der Begründung und weiter: „Deshalb sollte um eine weitergehende Einigung oder wenigstens um die Dokumentation eines breit aufgestellten ‚Minderheitenvotums‘ bzw. des derzeitigen Meinungsdissenses gerungen werden“.
Kritik an der Zusammensetzung des Gremiums
Die Stellungnahme kritisiert, dass in der Leitliniengruppe zu wenige Mitglieder sind, die den empfohlenen Maßnahmen kritisch gegenüberstehen. Der zustande gekommene Konsens reflektiere „lediglich einen solchen für die jeweils beteiligten Personen und Institutionen“, also für die Zusammensetzung der Leitliniengruppe.
Die Autoren des Papiers weisen auch auf Interessenkonflikte unter den Mitgliedern der Leitliniengruppe hin. Dazu gehört die Tatsache, dass eine beteiligte Endokrinologin eine vom Pharmahersteller Ferring finanziert Stiftungsprofessur innehabe, die einschlägige Gonadotropin-Releasing-Hormon (GNRH)-Agonisten herstelle, darunter Triptorelin, dass einer aktuellen Studie zufolge inzwischen zur Pubertätsblockade eingesetzt werde.
Das Autorenteam macht des Weiteren auf die momentan „volatile“, durch stets neue wissenschaftliche Studien und Beobachtungen geprägte Faktenlage aufmerksam. Daher mahnen sie, derzeit sei womöglich ein Abwarten erforderlich, eine „langsamere Gangart“, um nicht eine Leitlinie zu veröffentlichen, die „eventuell in einigen Monaten gegebenenfalls wieder revidiert werden muss“.
Die Experten verweisen zudem auf den kürzlich vollständig veröffentlichten Cass-Review. Dessen Aufarbeitung der gender-affirmativen Therapien hat zuletzt in England zu einer massiven Beschränkung der Pubertätsblocker-Anwendung – lediglich in Ausnahmefällen und in Studien – geführt.
Das Expertengremium kritisiert zudem die vorgeschlagenen therapeutischen Maßnahmen, da die wissenschaftliche Evidenz dafür nicht gegeben sei. „Die Empfehlungen würden im Falle einer Veröffentlichung zu einer Gefährdung vulnerabler Minderjähriger führen, da diese Maßnahmen noch nicht ausreichend erprobt sind“, heißt es in dem Papier.
In der detaillierten Analyse einzelner Empfehlungen wird unter anderem auf die Diskrepanz von Konsensus-Behauptungen und verfügbarer Evidenz hingewiesen: So heißt es in dem Leitlinienentwurf, dass eine diagnostische Überlappung zwischen Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und einer Geschlechtsidentitätsstörung beziehungsweise Genderdysphorie zwar überzufällig häufig vorkomme, „gleichwohl absolut gesehen selten“ sei.
Daraus folgert der Leitlinienentwurf die Entbehrlichkeit eines generellen Autismusscreenings, wenn keine klinischen Hinweise vorlägen. Die Kritiker des Entwurfes weisen indes darauf hin, dass eine Metaanalyse ein gemeinsames Auftreten beider Störungen von 11 % nachweist. Ohne Screening könnten Hinweise auf eine autistische Störung übersehen werden, ein solches sei daher keinesfalls „entbehrlich“, vielmehr „dringend notwendig“.
In einem weiteren Punkt weist das Autorenkolleg auf aktuelle Forschungsdaten aus den Niederlanden hin, die auf die „schwache Stabilität“ der Diagnosen hindeuteten. Sie listen eine Reihe von Ergebnissen auf, die in folgendes Fazit münden: „In der Zusammenschau dieser Befunde bedeutet dies, nur ca. 2 % der untersuchten Kohorte zeigten in dieser Studie eine im Erwachsenenalter noch vorhandene beziehungsweise gesteigerte Gender- beziehungsweise Geschlechtsunzufriedenheit, und 98 % der untersuchten Kohorte zeigten diese Symptomatik im Erwachsenenalter nicht mehr“.
In der skizzierten Kommentierung des Leitlinienentwurfes wird die Arbeit und Mühe der Leitlinienkommission ausdrücklich anerkannt und gewürdigt. Das eingereichte Papier möchte sich als „Anknüpfungs- und Anregungspunkt für diese wichtige fachliche Auseinandersetzung“ verstanden sehen.
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