Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung bei pandemiebedingter Triage schützen

Karlsruhe – Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. Andernfalls bestehe das Risiko, dass Menschen bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt würden, betonte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem heute veröffentlichten Beschluss (Az: 1 BvR 1541/20).
Auch die Ärzte bräuchten Unterstützung, um die dann anstehenden schweren Entscheidungen bei einer Triage zu treffen, so die Richter weiter. Das Bundesverfassungsgericht teilte mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber.
Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe. Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung einer Triage habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.
Eine Triage betrifft Situationen, in denen weniger medizinische Plätze oder Geräte zur Verfügung stehen, als für Patienten erforderlich wären. Ärzte müssen dann entscheiden, welche Patienten beispielsweise ein Beatmungsgerät erhalten. Nach den dafür bislang maßgeblichen „Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sind dabei die klinischen Erfolgsaussichten das entscheidende Kriterium.
Die Beschwerdeführer forderten eine gesetzliche Regelung. Andernfalls befürchteten sie in der Coronapandemie eine Benachteiligung, weil bei bestimmten Behinderungen oder Vorerkrankungen die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung schlechter seien als im Durchschnitt. Diese Sorge hat das Bundesverfassungsgericht nun bestätigt. Es sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde, hieß es.
Die Klägerin Nancy Poser zeigte sich „erleichtert“. „Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“, sagte die Richterin am Amtsgericht Trier. Die 42-Jährige hatte mit acht weiteren Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Freude verspüre sie nach dem Richterspruch nicht. „Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben – egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch“, sagte die 42-Jährige, die an einer spinalen Muskelatrophie leidet. Aber eben Erleichterung: „Weil das Grundgesetz Menschen mit Behinderungen schützt und das Verfassungsgericht auch in Anbetracht dieser Krisensituation die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen wahrt.“
Poser sagte: „Wir hoffen, dass der Gesetzgeber da schnell tätig wird und Regelungen trifft zu unserem Schutz“. Triage sei immer tragisch, „aber es ist was anderes, ob dabei auch noch Menschen diskriminiert werden aufgrund ihrer Behinderung“, sagte sie. Das Verfassungsgericht habe „hier ganz klar festgestellt, dass der Gesetzgeber seine Schutzpflicht verletzt hat“. Poser sitzt im Rollstuhl und lebt mit Assistenz.
Auch der Sozialverband VdK betonte, der Gesetzgeber müsse in der aktuellen Pandemiesituation dringend handeln. „Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage“, sagte die VdK-Präsidentin Verena Bentele. Jede Benachteiligung wegen einer Behinderung müsse verhindert werden, betonte Bentele. „Die Politik muss nun unverzüglich handeln, das hat das Gericht sehr deutlich gemacht.“
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, appellierte an den Gesetzgeber, die verfasste Ärzteschaft bei der Ausgestaltung der von dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eingeräumten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume der zu schaffenden gesetzlichen Regelungen eng einzubinden.
Die BÄK hatte bereits im Mai des vergangenen Jahres in einer Orientierungshilfe für Ärztinnen und Ärzte klargestellt, dass Grundsatz bei Allokationsentscheidungen im Falle eines Kapazitätsmangels immer sein muss, dass kein Menschenleben mehr wert sei als ein anderes.
„Es verbieten sich Benachteiligungen aufgrund von zum Beispiel Alter, Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder sozialem Status“, heißt es darin. Auch chronische Erkrankungen wie Demenz dürften nicht zu einem pauschalen Ausschluss von erforderlicher Behandlung führen.
Vielmehr müssten die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten zentrale Kriterien für die Entscheidung angesichts knapper Ressourcen sein. Diese würden auch für die Entscheidung über die Fortführung einer Intensiv- oder Beatmungstherapie gelten.
Darüber hinaus müssten Allokationsentscheidungen bei knappen Ressourcen immer ärztlich bleiben. Aus diesem Grund begrüße man die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, nach denen der Gesetzgeber die „Sachgesetzlichkeiten“ der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten habe, wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liegt.
Von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hieß es, das Urteil mache deutlich, wie ethisch hoch problematisch Triageentscheidungen im Krankenhaus seien. Klarstellungen und Entscheidungshilfen könnten Ärztinnen und Ärzte bei der Arbeit vor Ort unterstützen und Rechtssicherheit geben. Diese sollten sich nur auf den Aspekt der Behinderung beziehen. Ohne Zweifel müsse die Überlebensperspektive der Patienten für eine Entscheidung maßgeblich sein, so die DKG.
Sie machte aber auch klar, dass für Ärzte das moralisch ethische Dilemma bleibt, in Extremsituationen unter hohem Druck und in extremer Eile Priorisierungsentscheidungen treffen, die Komorbiditäten berücksichtigen und den Erfolg einer Behandlung abschätzen zu müssen und somit wesentlichen Einfluss auf Leben, Lebensqualität und Überleben haben werden.
„Das Urteil macht aber auch deutlich, wie wichtig es ist, eine maximale Belastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Es verdeutlicht auch die Verantwortung jedes Einzelnen eine Überlastung der Kliniken zu verhindern“, so die DKG.
Der Intensivmediziner Uwe Janssens begrüßte die Entscheidung. Das Urteil sei „genau das gewesen, was wir in unseren Empfehlungen schon geschrieben haben“, sagte der frühere Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) den ARD-„Tagesthemen“. Die DIVI habe immer darauf hingewiesen, „dass bei Priorisierungsentscheidungen am Krankenbett die Behinderung oder das Alter keine Rolle spielen dürfen“.
Die DIVI-Empfehlungen sind laut Janssens im Dezember zum dritten Mal weiterentwickelt worden. Janssens warnte, dass die Entscheidung aus Karlsruhe die Entscheidungsfreiheit der Ärzte und die Bedeutung der DIVI-Empfehlungen de facto einschränken könnte.
„Wir hätten uns sehr gefreut, wenn das Bundesverfassungsgericht uns Ärztinnen und Ärzten mehr den Rücken gestärkt hätte, indem es ganz klar gesagt hätte, das uns das Vertrauen für solche Entscheidungen ausgesprochen wird“, sagte Janssens der ARD.
Es können am Ende nicht so sein, „dass die Gesetze medizinische Kriterien vorschreiben“. Das müsse dann „letztendlich schon den Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sein“, sagte Janssens. Solche Fälle seien so komplex, „dass sie in keinem Gesetz der Welt das abbilden können, was sich da am Krankenbett abspielt“.
„Grundsätzlich begrüßen wir den Richterspruch“, hieß es vom Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). Man sehe es aber „sehr kritisch“, dass ärztliche Therapie gesetzlich geregelt werden solle. „Gesetzliche Präzisierungen der ärztlichen Behandlung sollten gemeinsam mit uns gestaltet werden.“
BDA und DGAI sind dafür, dass ärztliches Handeln durch Gesetze abgesichert wird. „Das hat sich in der Regel bewährt“, sagte BDA-Präsident Götz Geldner. Nach Ansicht der beiden Verbände ist es jedoch problematisch, die Kompetenz von Ärzten anzutasten oder infrage zu stellen, medizinische Entscheidungen zu treffen. „Hinzu kommt, dass Merkmale wie Religion, Handicap, Herkunft, Impfverhalten oder Sozialstatus für keine Ärztin und keinen Arzt eine Rolle spielen würden bei einer Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Therapie“, so Geldner weiter.
Es gehe einzig und allein um die Heilungschancen, die ein Patient hat und die allein aufgrund der medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen bewertet werden. Es sei immer schon undenkbar gewesen, eine Behinderung in einem Therapieplan zum Maßstab zu machen.
„Die Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Behandlung auf der Intensivstation wird außerdem niemals von einem Arzt allein, sondern immer in einem größeren Team von Experten getroffen, so dass wirklich alle relevanten Entscheidungskriterien gesammelt und abgewogen werden“, macht DGAI-Präsident Frank Wappler zusätzlich deutlich. Dies sei ein grundlegendes Prinzip in der Intensivmedizin und das habe so auch Gültigkeit in der Coronapandemie.
Für die BAG Selbsthilfe reicht es nicht aus, Orientierungshilfen von medizinischen Fachgesellschaften in ein Triage-Gesetz zu überführen. „Wir brauchen klare Regelungen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht alleine über Leben und Tod entscheiden, sondern dass Gremien zur Sicherstellung rechtlicher und ethischer Expertise eingebunden werden“, sagte Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG Selbsthilfe. Es müsse zudem „deutlich herausgestellt werden, dass das menschliche Leben mit und ohne Behinderung gleich viel wert ist“.
Bund kündigte schnelle Umsetzung an
Die Bundesregierung will nach der Entscheidung zügig eine gesetzliche Regelung schaffen. Dies kündigte Justizminister Marco Buschmann (FDP) im Kurzbotschaftendienst Twitter an. „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt“, erklärte Buschmann. „Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten.“ „Die Bundesregierung wird dazu zügig einen Entwurf vorlegen“, fügte der Minister hinzu.
Auch aus dem Bundestag kamen entsprechende Signale heute nach dem Urteil. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sprach heute von einem „klaren Auftrag an uns als Gesetzgeber“. Er verwies darauf, dass die Richter dem Gesetzgeber einen Spielraum zubilligten. „Diesem klar umrissenen Handlungsauftrag sollten wir jetzt zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen.“ SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei bereits im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden.
FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki begrüßte den Beschluss ebenfalls. „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist rechtlich nachvollziehbar, da nach der Wertentscheidung unseres Grundgesetzes Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden müssen und nicht durch private Übereinkunft“, sagte er der Rheinischen Post.
„Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Coronapolitik unter Kanzlerin Merkel.“
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: „Es ist an uns als Gesetzgeber, Vorkehrungen zu treffen. Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung & Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann.“
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb auf Twitter: „Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heißt es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.“
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