Medizin

Gicht: US-Leitlinie schränkt Behandlung mit Harnsäuresenker ein

  • Mittwoch, 2. November 2016
Uploaded: 02.11.2016 17:53:55 by mis
harnsäurekristalle: Mikroaufnahme mit einem Polarisationsmikroskop

Philadelphia – Während Rheumatologen nach einer ersten Gichtattacke allen Patienten zu einer harnsäuresenkenden Therapie raten, gibt sich der Verband der US-Internisten zurückhaltend. Seine jetzt in den Annals of Internal Medicine vorgestellte Leitlinie gibt der Vermeidung von Rezidiven („treat-to-avoid“) den Vorzug gegenüber einer generellen Prophylaxe („treat-to-target“).

Die akute Gicht ist eine häufige Erkrankung. In den USA wird die Diagnose inzwischen bei 3,9 Prozent der Erwachsenen im Verlauf des Lebens gestellt, Tendenz steigend. Für Deutschland gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Eine bevölkerungsbasierte Studie aus Großbritannien zeigt einen Anstieg der Prävalenz von 1,4 Prozent in 1999 auf 2,5 Prozent in 2012. Europa dürfte deshalb nicht von der Zunahme der Erkrankung ausgenommen sein, zumal die Risikofaktoren Fettleibigkeit, Hypertonie, übermäßiger Alkoholkonsum, fleischlastige Ernährung und fruktosehaltige Süßgetränke wie in den USA weit verbreitet sind.

Die Diagnose ist in der Regel einfach. Die Gichtattacke befällt in der Regel nur einzelne Gelenke, am häufigsten sind dies das Großzehengrundgelenk (Podagra), Mittelfuß, Sprunggelenk oder Knie (Gonagra). Falls andere Erkrankungen infrage kommen, führt der Nachweis von Natriumuratkristallen in der Gelenkflüssigkeit zur definitiven Diagnose. Dies sieht auch die Leitlinie des American College of Physicians so (doi: 10.7326/M16-0569). Dual-Energy-Computertomographie (Sensitivität 85-100 Prozent; Spezifität 83-92 Prozent) und Ultraschalluntersuchungen (Sensitivität 37-100 Prozent und Spezifität (68-97 Prozent) seien zu ungenau, heißt es in einem Evidenzreport (doi: 10.7326/M16-0462).

Während der Gichtattacke hat der Arzt in der Behandlung die Wahl zwischen Kortikos­teroiden, nicht-steroidalen Antiphlogistika (NSAID) oder Colchicin. Das American College of Physicians hält die Wirksamkeit aller drei Mittel für erwiesen, obwohl zu dieser Frage nur drei randomisierte klinische Studien durchgeführt wurden, darunter keine zur Steroidgabe, deren Wirkung jedoch laut dem Evidenzreport (doi: 10.7326/M16-0461) Ärzte und Patienten jedoch in der Regel überzeugt. Colchicin erzielte in einer jüngeren Studie in einer relativ niedrigen Dosierung eine gute Wirkung. Es erspart vielen Patienten eine Diarrhö und andere Nebenwirkungen.

Umstritten ist die Frage, ob erhöhte Harnsäurewerte bereits nach einer ersten Gicht­attacke medikamentös gesenkt werden sollten. Für das American College of Rheumatology (und auch für die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie) besteht daran kein Zweifel. Mit Allopurinol und Febuxostat stehen Wirkstoffe zur Verfügung, die den Harnsäurespiegel in randomisierten klinischen Studien effektiv gesenkt haben.

Es fehlt jedoch der eindeutige Beleg, dass dadurch auch zukünftigen Attacken vorgebeugt wird. Für die Berufsverbände der Rheumatologen versteht sich das von selbst, schließlich ist ja die Kristallisation von Harnsäure in den Gelenken der Auslöser der Schmerzattacken und später auch der Bildung der Gichttophi, den für die Krankheit typischen Harnsäureablagerungen im Weichteil- oder Knorpelgewebe.

Das American College of Physicians gibt zu bedenken, dass die Wirksamkeit einer dauerhaften harnsäuresenkenden Therapie allein auf physiologischen Überlegungen und Beobachtungsstudien beruht. Ein Beleg durch randomisierte klinische Studien fehle. Die Leitlinie spricht sich deshalb gegen eine regelmäßige präventive Therapie aus, die in der Regel eine Harnsäurekonzentration im Blut von unter 6 mg/dl anstrebt. Es fehle eine Nutzen-Risiko-Bewertung der von den Rheumatologen geforderten „treat-to-target“-Behandlung. Immerhin hätten Allopurinol und Febuxostat Nebenwirkungen.

Selbst bei wiederholten Gichtattacken sieht die Leitlinie der Internisten nicht automatisch eine Indikation für eine Harnsäure-senkende Therapie gegeben. Diese müsse in jedem Fall unter Abwägung von Vor- und Nachteilen geprüft und mit dem Patienten besprochen werden. Dem American College of Physicians schwebt eine „Treat-to-Avoid“-Strategie vor, die die Behandlung auf jene Patienten beschränkt, die ohne Medikamente von Gichtattacken bedroht sind.

Diese Strategie hält der Tuhina Neogi von der Boston University School of Medicine (BUSM) für höchst zweifelhaft, zumal die Leitlinie auch den Wert von regelmäßigen Labortests zur Bestimmung der Harnsäure nicht für evidenzbasiert hält. Neogi kritisiert diese Haltung scharf. Niemand würde bei einem Diabetiker auf die Idee kommen, den Blutzucker erst dann zu senken, wenn Spätschäden der Erkrankung aufgetreten sind, schreibt sie in einem Editorial.

Robert McLean von der Northeast Medical Group in New Haven/Connecticut verteidigt dagegen die Empfehlungen des American College of Physicians, die auf zwei Evidenz-Reports der unabhängigen RAND-Corporation beruhen. Für die „treat-to-target“-Strate­gie des American College of Rheumatology gebe es keine Belege aus randomisierten Studien, schreibt McLean in seinem Editorial.

rme

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