Medizin

Großer psychosozialer Behandlungsbedarf bei contergan­geschädigten Menschen

  • Freitag, 10. März 2017

Köln – Bei Menschen mit Conterganschädigung kommt es im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung annähernd doppelt so häufig zu psychischen Störungen. Zugleich nehmen die Betroffenen professionelle psychosoziale Hilfsangebote sehr viel weniger in Anspruch, so dass bei ihnen von einer deutlichen Unterversorgung ausgegangen werden muss. Zu diesem Ergebnis kommen Alexander Niecke und Koautoren in der aktuellen Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes (Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 168-74) auf der Grundlage einer Studie, an der sich 193 Conterganbetroffene aus Nordrhein-Westfalen beteiligten.

Über den Zeitraum von Oktober 1957 bis November 1961 war das Thalidomid-haltige Contergan als rezeptfreies Beruhigungsmittel zugelassen. Geschätzt wird, dass von 1957 bis 1962 in der Bundesrepublik Deutschland 5.000 Kinder mit Schädigungen geboren wurden, die auf die Einnahme von Contergan in der Schwangerschaft zurückzuführen waren.

Heute leben circa 2.400 contergangeschädigte Menschen in Deutschland; sie leiden an den Folgeschäden ihrer Behinderung, insbesondere an chronischen Schmerzen sowie Funktions- und Bewegungseinschränkungen. Häufig haben sie eine verminderte Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, sind auf Hilfsmittel, zum Beispiel einen Rollstuhl, und die Unterstützung durch Assistenz- und Pflegeberufe angewiesen. Dies hat auch weitreichende psychosoziale Konsequenzen.  

Bei fast der Hälfte der Contergangeschädigten (47,2 %) war in den vier Wochen vor der Befragung mindestens eine psychische Störung aufgetreten, betonen die Autoren. Die am häufigsten gestellte Einzeldiagnose einer unipolaren Depression kam bei ihnen doppelt so häufig vor, wie sie als Prävalenz in der Bevölkerung angegeben wird. 115 Teilnehmer der Studie berichteten über Phasen psychischer Störungen über die gesamte bisherige Lebenszeit.

Die hohe Prävalenz psychischer Störungen bei Conterganbetroffenen kann sowohl durch biologische Faktoren, etwa die Neurotoxizität von Thalidomid, erklärt werden als auch durch psychologische Faktoren, beispielsweise Stress durch körperliche Behinderungen und eingeschränkte soziale Teilhabe. Um eine bessere Inanspruch­nahme psychosozialer Leistungen durch Menschen mit Conterganschädigung zu erreichen, halten die Autoren die Entwicklung spezialisierter psychosozialer Behandlungsangebote für erforderlich.

TG

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung