Großteil der Unikliniken verstößt gegen Arbeitszeiterfassung

Berlin – Ein Großteil der Universitätskliniken verstößt gegen den Tarifvertrag, den der Marburger Bund (MB) und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) im März 2024 vereinbart haben und der seit Jahresbeginn gilt. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Ärztegewerkschaft, an der sich rund 3.500 Ärztinnen und Ärzten an landeseigenen Universitätskliniken beteiligt haben.
Der Tarifvertrag sieht eine manipulationssichere, elektronische Zeiterfassung nach dem Stechuhrprinzip vor. Tatsächlich geschieht dies jedoch nur bei 17 Prozent der Befragten. Bei 62 Prozent gibt es hingegen nur eine digitale Dokumentation, zum Beispiel in Form einer Erfassung der Soll-Arbeitszeiten von Dienstprogrammen. Bei weiteren 17 Prozent wird die Arbeitszeit manuell erfasst und bei vier Prozent gar nicht.
Der Marburger Bund will jetzt mit einer Kampagne darauf aufmerksam machen, dass sich viele Universitätskliniken nicht an den für sie geltenden Tarifvertrag halten. An den tarifgebundenen Universitätskliniken arbeiten etwa 20.000 Ärztinnen und Ärzte.
Die Universitätskliniken in Hamburg, Berlin, Mainz und Hessen gehören nicht zu den Kliniken, für die der Tarifvertrag mit der TdL gilt. Sie haben mit dem MB eigene Verträge abgeschlossen.
Johna: Mutwilliger Verstoß ist ein Skandal
„Es ist ein Skandal, dass die große Mehrheit der Unikliniken mutwillig gegen die Vorschriften im Tarifvertrag verstößt, die eine elektronische Erfassung der gesamten Anwesenheitszeit – abzüglich tatsächlich genommener Pausen – verlangt“, kommentierte die 1. Vorsitzende des MB, Susanne Johna, die Ergebnisse der Umfrage.
„Teilweise hat dieser Rechtsbruch den Charakter einer Manipulation mit System. Pro Woche werden Zehntausende von geleisteten Überstunden von Ärztinnen und Ärzten an den Unikliniken nicht anerkannt und folglich auch nicht bezahlt.“
Die Umfrage hat zudem gezeigt, dass 48 Prozent der Teilnehmenden Arbeitsstunden, die über die geplante Arbeitszeit hinausgehen, von ihrem Vorgesetzten genehmigen lassen müssen.
Bei weiteren 28 Prozent gibt es darüber hinaus die Erwartung, dass diese Arbeitsstunden gar nicht erst zur Genehmigung vorgelegt werden. Nur 25 Prozent müssen ihre Überstunden nicht zur nachträglichen Genehmigung vorlegen.
Bei 44 Prozent der Befragten kommt es trotz Mitteilung an die Vorgesetzten zudem vor, dass geleistete Stunden unberücksichtigt bleiben. Bei 56 Prozent ist das nicht der Fall. Bei elf Prozent werden zehn oder mehr Stunden pro Woche nicht berücksichtigt. Bei 22 Prozent sind es zwischen fünf und acht Stunden.
„Ich verliere die Motivation am Beruf“
„Hier geht es um mehr als um Minutenzählerei“, betonte Johna. „Es geht um Arbeitszeit, die unsichtbar gemacht wird. Um Überstunden, die nicht bezahlt werden. Um Arbeitsschutz, der auf dem Papier steht, aber in der Realität unbeachtet bleibt.“
Sie betont auch, es gehe um Ärzte, die mangels ordentlicher Zeiterfassung Höchstarbeitszeitgrenzen überschreiten würden, weil sie sich ihren Patienten und ihrer Arbeit verpflichtet fühlten. Es dürfe deshalb auch nicht verwundern, dass viele Betroffene diese Praxis an den Unikliniken als Geringschätzung ihrer Arbeit empfänden.
„Im Interesse dieser Mitglieder werden wir gegen den Rechtsbruch der Arbeitgeber vorgehen“, kündigte Johna an. Verträge müssten eingehalten werden.
Auf die Frage, was sie an der derzeitigen Praxis der Zeiterfassung am meisten störe, erklärten Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem: „Dass die elektronische Zeiterfassung durch den Klinikvorstand mit Absicht abgelehnt wird, obwohl sie im Vertrag steht.“, „Fehlende Wertschätzung des Arbeitgebers.“ Oder: „Ich fühle mich ausgebeutet und verliere die Motivation am Beruf.“
Auf die Frage, welche Auswirkungen die unzureichende Zeiterfassung auf ihre Arbeitssituation und ihr Privatleben habe, nannten mehr als zwei Drittel der Befragten (68 %) an erster Stelle „weniger Erholungszeit“, 61 Prozent erklärten, ihre Work-Life-Balance sowie ihre soziale Teilhabe litten.
57 Prozent der Teilnehmenden verspüren eine „sinkende Motivation“. 51 Prozent schrieben von einer größeren Erschöpfung und einer Burnout-Gefahr. Nur zwölf Prozent erklärten, es gebe keine Auswirkungen.
Betroffene Ärzte müssten klagen
Zur Kampagne des MB erklärte der 2. Vorsitzende, Andreas Botzlar: „Wir wollen die Öffentlichkeit über diese Situation informieren, über der heute der Mantel des Schweigens liegt.“ Er betonte, dass die Universitätskliniken zwischen Abschluss des Tarifvertrags im März 2024 und dessen Inkrafttreten zum Januar 2025 genug Zeit gehabt hätten, um die technische Umstellung herbeizuführen.
„Das Ganze ist auch eine Vorbereitung darauf, dass die regelmäßige Arbeitszeit an den tarifgebundenen Universitätskliniken ab dem Jahr 2026 von 42 auf 40 Wochenstunden reduziert wird. Wenn die technische Erfassung nicht klappt, läuft auch die Reduzierung der Arbeitszeit ins Leere.“
„In der Kampagne wollen wir auch darauf hinweisen, dass es ein Unding ist, dass die Ärztinnen und Ärzte sich ihre Rechte jetzt noch ein zweites Mal erkämpfen müssen, nachdem sie diese ja bereits mit dem Abschluss des Tarifvertrags erkämpft hatten“, so Botzlar weiter.
Wenn Betroffene dagegen vorgehen wollten, dass ihre Arbeitgeber sich nicht an den Tarifvertrag hielten, müssten sie den Rechtsweg beschreiten. „Doch wer verklagt schon gerne seinen Arbeitgeber – erst recht, wenn er sich in Weiterbildung befindet und einen befristeten Arbeitsvertrag hat?“, fragte Botzlar.
MB fordert Verbandsklagerecht
Damit nicht einzelne Ärzte ihren Arbeitgeber verklagen müssen, fordert der MB seit längerem ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften – so, wie es bereits für Umwelt- oder Behindertenverbände existiert. „Wir erwarten, dass die TdL auf ihre Mitglieder, die Unikliniken, einwirkt, der Verpflichtung aus dem Tarifvertrag nachzukommen“, erklärte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des MB, Christian Twardy.
„Wenn ein Tarifvertragspartner die Abmachungen aus dem Tarifvertrag als unverbindliche Empfehlungen betrachtet, befürchten wir zudem, dass der Tarifvertrag als solches auf lange Sicht ein Stückweit entwertet wird.“
Botzlar betonte: „Sich nicht an die Abmachungen eines Tarifvertrages zu halten, wäre schon bei privaten Trägern befremdlich. Es ist jedoch umso befremdlicher bei Universitätskliniken, hinter denen ja die Bundesländer stehen – also der Staat, der selbst die Gesetze macht, sich dann aber nicht an die Regeln hält. Das ist der eigentliche Skandal.“
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