Hausärzte in England raten Praxen vom Cholesterinsenker Inclisiran ab

London/Gelnhausen – Hausärzte im Süden Englands haben Praxen dazu geraten, dem Rat des nationalen Gesundheitsdienst NHS, das cholesterinsenkende Medikament Inclisiran zu verschreiben, nicht zu folgen. Sie hätten Bedenken hinsichtlich der Finanzierung und der langfristigen Sicherheitsüberwachung, berichtete das BMJ (2023; DOI: 10.1136/bmj.p1757).
In England wurde das cholesterinsenkende Medikament Inclisiran am 1. April 2022 in die Arzneimittelliste „Payment by Results“ (PbR) aufgenommen und wird vom NHS finanziert. Der Widerstand der Hausärzte kommt inmitten einer Initiative des NHS, die auf einer Vereinbarung zwischen dem nationalen Gesundheitsdienst mit dem Hersteller Novartis fusst.
Das Management der Therapie soll so unterstützt werden und es Hausärzten ermöglichen, Inclisiran in der Primärversorgung zu verschreiben. Novartis und der NHS erhoffen sich, dass über einen Zeitraum von drei Jahren etwa 300.000 Patienten mit einem hohen Risiko für ein zweites kardiovaskuläres Ereignis im ambulanten Umfeld mit Inclisiran behandelt werden könnten.
Der NHS hat dazu im April diesen Jahres Finanzierungsrichtlinien veröffentlicht und lokale Versorgungsausschüsse (ICBs) ins Leben gerufen. Bei dem neuen Medikament handelt es sich um eine nur zweimal jährlich zu applizierende small interfering RNA (siRNA) gegen PCSK9 (siehe Kasten).
Das BMJ berichtete, dass zahlreiche lokale medizinische Komitees (LMCs) in Südengland den Hausärzten geraten haben sollen, keine Inclisiran-Behandlung einzuleiten. Patienten sollten stattdessen an die Sekundärversorger überwiesen werden, bis zusätzliche Finanzierungsvereinbarungen getroffen sind.
In Übereinstimmung mit anderen LMCs im Südwesten erklärt das LMC Wessex beispielsweise, dass sie Praxen nicht empfehlen, dieses Medikament in der Primärversorgung zu verschreiben und zu verabreichen, ohne einen erweiterten Service bereitzustellen.
Praxen würden „Geld verlieren“, wenn sie es verschreiben, da die reduzierte Verwaltungsgebühr von fünf Pfund nicht ausreiche, um die Kosten für die Verabreichung des Arzneimittels und die anschließende Überwachung der Patienten zu decken, so Andy Parkin, medizinischer Direktor der LMC Kent.
Studien zu kardiovaskulären Endpunkten fehlen noch
Das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) genehmigte Inclisiran, räumte aber ein, dass Unsicherheiten hinsichtlich der langfristigen Auswirkung des Medikaments auf kardiovaskuläre Endpunkte bestünden. Eine klinische Studie (Orion-4), die kardiovaskuläre Ergebnisse bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte untersuchen wird, soll erst 2026 abgeschlossen sein.
Paula Byrne, eine leitende Postdoktorandin an der Universität Galway, hatte bereits im Oktober 2021 in einem BMJ-Editorial die Entscheidung des NICE, Inclisiran zu empfehlen, infrage gestellt (DOI: 10.1136/bmj.n2462).
Auch jetzt betonte sie, dass man über die Wirkung von Inclisiran auf kardiovaskuläre Ereignisse wenig wisse. Die Entscheidung des NHS, sich dafür zu entscheiden, Hausärzten die Verschreibung von Inclisiran zu empfehlen, habe sie daher überrascht.
„Vor dem Hintergrund, dass zu Inclisiran noch keine Studienergebnisse zu relevanten kardiovaskulären Endpunkten vorliegen, ist eine Verabreichung an 300.000 Patienten – wie in England geplant – sicherlich strittig und kritisch zu diskutieren“, findet auch Oliver Weingärtner vom Universitätsklinikum Jena.
Die Forderung nach einer positiven Endpunktstudie vor Verabreichung des Präparates im großen Stil ist für den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen (DGFF, Lipid-Liga) daher nachvollziehbar.
Deutschland: Inclisiran wird nur von Fachärzten verordnet
Andererseits liegen für monoklonale Anti-PCSK9-Antikörper (PCSK9-mAbs) Endpunktstudien vor (NEJM; DOI: 10.1056/NEJMoa1615664). „Wir können daher davon ausgehen, dass auch für die siRNA Inclisiran die laufende Endpunktstudie positiv ausfallen wird“, ist Weingärtner überzeugt.
In Deutschland liegt die Verordnung von Inclisiran nach der Verordnungseinschränkung im Ermessen des behandelnden Arztes im „Informed Consent“ mit dem Patienten. So sollte es auch in England gehandhabt werden, empfiehlt der Vorsitzende der Lipid-Liga dem Deutschen Ärzteblatt. Er hat bereits mit allen Herstellern von Lipidsenkern im Rahmen von Studien, Vorträgen und Beratungen zusammengearbeitet, auch Novartis.
In Deutschland kann Inclisiran streng nach der Verordnungseinschränkung, die seit dem 18. Januar 2022 gültig ist, von Kardiologen, Angiologen, Nephrologen, Endokrinologen/Diabetologen sowie von Fachärzten, die an Ambulanzen für Lipidstoffwechselstörungen tätig sind, verordnet werden.
Der Wirkstoff kann etwa dann zulasten der Krankenkassen verordnet werden, wenn keine Mehrkosten im Vergleich zu einer Therapie mit anderen Lipidsenkern (Statine, Anionenaustauscher, Cholesterinresorptionshemmer) anfallen. Diese Einschränkung gilt nicht für Patienten mit heterozygot familiärer oder nicht‐familiärer Hypercholesterinämie oder gemischter Dyslipidämie bei therapierefraktären Verläufen.
Man schätzt aktuell, dass zirka 270.000 Patienten von der familiären Hypercholesterinämie betroffen sind (siehe Kasten). Darüber hinaus gäbe es etwa 2,5 Millionen Menschen in Deutschland mit stark erhöhten Cholesterinwerten und einem sehr hohen Herz-Kreislauf-Risiko, die die empfohlenen LDL-C-Zielwerte nicht erreichen, erklärte der Kardiologe Weingärtner.
„Potenziell sind das alles Patienten, die von einer Inclisiran Therapie profitieren könnten“, so der Vorsitzende der Lipid-Liga. Die Verträglichkeit von Inclisiran sei in den ersten Studien exzellent (NEJM; DOI: 10.1056/NEJMoa1615758).
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