Heilpflanzen: Studien untersuchen nur einen Bruchteil

London – Laut dem neuen Bericht „State of the World's Plants“ sollen 28.187 Pflanzenarten auf der Erde einen medizinischen Nutzen haben. Dabei handele es sich wahrscheinlich um eine sehr konservative Zahl, heißt es in der Bestandsaufnahme, die 128 Wissenschaftler aus zwölf Ländern im Auftrag der Royal Botanic Gardens von Kew erstellten. Auch die Lehrstuhlinhaberin für Naturheilkunde der Universitätsmedizin Rostock, Karin Kraft, schätzt, dass es noch mehr Pflanzen mit medizinischer Wirkung gibt. In wissenschaftlichen Studien werden jedoch nur etwa 16 Prozent (4.478) dieser weltweit genutzten Pflanzen erwähnt.
Die Zahl der in Pharmakopöen erfassten Heilpflanzen sei im Vergleich zum Vorjahresbericht um 59 Prozent gestiegen, erklärte das britische Zentrum für botanische Forschung, Kew Gardens, im Mai 2017 in London. Für Europa gilt seit 2017 die Ausgabe 9 der Europäischen Pharmakopöe, für Deutschland gibt es zudem das Deutsche Arzneibuch als Pharmakopöe.
In der Schulmedizin würde jedoch nur ein Bruchteil dieses Potenzials genutzt. Dabei hätten Heilpflanzen ein „riesiges Potenzial“ bei der Bekämpfung von häufigen und schweren Krankheiten, sagte die stellvertretende Wissenschaftsdirektorin von Kew Gardens, Monique Simmonds. So zählen laut dem Bericht die beiden Pflanzenstoffe Artemisinin und Chinin „zu den wichtigsten Waffen“ gegen die Infektionskrankheit Malaria, an der 2015 mehr als 400.000 Menschen starben.
Wegen der zunehmenden Resistenzen gegenüber den bisher verfügbaren Arzneimitteln gegen Malaria seien weitere pflanzliche Inhaltsstoffe, die gegen Malaria, aber auch gegen andere Infektionskrankheiten wirken, von großem Interesse, sagt Kraft. „Das Interesse der Pharmaindustrie ist jedoch eher gering. Denn die Extrakte aus Arzneipflanzen sind in der Regel nicht patentierbar“, erklärt die Fachärztin für Innere Medizin. Daher müsse die öffentliche Forschungsförderung zu pflanzlichen Arzneimitteln in Deutschland, insbesondere mit klinischen Studien, intensiviert werden. „China geht hier mit sehr gutem Beispiel voran.“
Neue Arten
Die Bestandsaufnahme führt rund 1.730 Neuentdeckungen seit dem Vorjahr auf. Dazu zählen neun Arten einer Kletterpflanze namens Mucuna, die bei der Behandlung von Parkinson eingesetzt werden. Außerdem wurden fünf neue Arten von Manihot, einer Maniok-Variante, in Brasilien entdeckt. Die neuen Arten könnten die Maniok-Ernten verbessern und stellten eine „Nahrung der Zukunft“ dar, erklärten die Studienautoren.
Dabei punkten einige Pflanzenfamilien mit einem besonders hohen Anteil an medizinischem Potenzial. An erster Stelle stehen im Kew’s Medicinal Plant Names Service (MPNS) die Fabaceae, auch Hülsenfrüchtler genannt. Von fast 21.000 Arten aus dieser Familie sollen 2.334 vor allem aufgrund der enthaltenen Alkaloide einen medizinischen Nutzen haben, was 11,2 Prozent aller Heilpflanzen entspricht. Der Blutverdünner Warfarin stammt beispielsweise aus dieser Familie. Er wurde aus dem gelben Steinklee isoliert. An Platz zwei mit 1.059 gelisteten Heilpflanzen stehen die Lippenblütler (Lamiaceae), die reich an Terpenen sind (siehe Kasten). Bei den Maulbeergewächsen ist hingegen der prozentuale Anteil mit 22,5 Prozent aller Pflanzen dieser Familie am höchsten. Ihre blutzuckersenkende Wirkung wird unter anderem bei Diabetes Typ 2 erforscht.
Hierzulande haben laut der Weltgesundheitsorganisation bereits 90 Prozent der Bevölkerung schon einmal pflanzliche Medizin genutzt. „Umso wichtiger ist es, dass die Patienten besser vor Nebenwirkungen und Verfälschungen geschützt werden“, sagt Kraft und warnt gleichzeitig: Die politisch erwünschte Selbstmedikation werde nur bei pflanzlichen Arzneimitteln, aber nicht bei Nahrungsergänzungsmitteln aus Arzneipflanzen hinsichtlich ihrer Qualität, ihrer Wirksamkeit und ihrer Verträglichkeit geprüft. „Das gefährdet nicht nur die Gesundheit der Verbraucher, sondern behindert auch den dringend benötigten wissenschaftlichen Fortschritt, weil verfügbare finanzielle Ressourcen vorwiegend in Werbung investiert werden müssen.“
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