Klimaphänomen (nicht Klimawandel) erklärt Zunahme der Rachitis in England

Toronto – Die Zunahme von Rachitiserkrankungen, zu der es seit Mitte der 1990er-Jahre in England kommt, wird möglicherweise durch ein periodisches Klimaphänomen ausgelöst, wie eine Studie in Scientific Reports (2017; doi: 10.1038/s41598-017-16058-1) zeigt.
Die Rachitis, die infolge einer unzureichenden Mineralisierung des Knochens im ersten Lebensjahr zu lebenslangen Deformitäten führt, wurde früher als englische Krankheit bezeichnet. In England waren die Kinder besonders gefährdet, weil die Zahl der Sonnenstunden wegen der Nähe zum Atlantik und der vorherrschenden Westwindwetterlage sehr niedrig ist. Auch die starke Luftverschmutzung, die infolge des häufigen Smogs die Zahl der Sonnentage weiter gesenkt hat, dürfte in der Vergangenheit an den hohen Erkrankungszahlen beteiligt gewesen sein.
Seitdem sich die Luft verbessert hat und die Kinder eine Vitaminprophylaxe erhalten, sind die Erkrankungszahlen gesunken. Ein Krankenregister an der Universität Oxford verzeichnet seit Beginn der Aufzeichnung Mitte der 1960er-Jahre einen stetigen Rückgang. Die Inzidenz fiel 1997 auf den historischen Tiefpunkt von 0,56 Erkrankungen auf 100.000 Einwohner. Seither steigt die Zahl der Diagnosen. Bis 2011 hat sich die Inzidenz auf 1,01/100.000 fast verdoppelt.
Epidemiologen vermuten, dass eine Änderung der Ernährung oder auch die Einwanderung von dunkelhäutigeren Menschen die Auslöser für die Zunahme waren. Die Ernährung spielt eine Rolle, weil das Kalzium für die Mineralisierung des Knochens mit der Nahrung aufgenommen wird. Die Haut ist ein Produktionsort von Vitamin D, ohne das Kalzium nur in sehr begrenzter Menge vom Darm resorbiert wird.
In England wird in den Wintermonaten zu wenig Vitamin D in der Haut gebildet. Die Vorräte können allerdings in den Sommermonaten aufgestockt werden. Nach Berechnungen britischer Forscher sollten 13 Minuten am Tag oder etwa 6,5 Stunden im Monat ausreichen. In der Praxis dürften allerdings viele Kleinkinder zu wenig Sonne erhalten.
Die Gefahr könnte in den letzten Jahren gestiegen sein, da die Zahl der Sonnenstunden in den Sommermonaten seit etwa 1995 kontinuierlich zurückgeht (um 4,02 Stunden pro Monat in einer Dekade), während sie zuvor noch angestiegen war (um 2,36 Stunden pro Monat in einer Dekade).
Der Wendepunkt in der sommerlichen Sonnenscheindauer im Jahr 1995 fällt fast exakt mit dem Wendepunkt in der Rachitisinzidenz im Jahr 1997 zusammen, wenn man bedenkt, dass von der Ursache (Vitamin-D-Mangel) bis zur Erkrankung (Rachitis) eine gewisse Zeit vergeht.
Haris Majeed von der Universität Toronto führt die verkürzte Sonnenscheindauer im Sommer nicht etwa auf die Klimaerwärmung zurück, die nicht erst 1993 eingesetzt hat. Verantwortlich ist seiner Ansicht nach die atlantische Multidekaden-Oszillation („atlantic multidecadal oscillation“, AMO). Es handelt sich um zyklisch auftretende Schwankungen von Meeresströmungen im Nordatlantik, die mit einer Veränderung der Oberflächentemperatur des Wassers einhergehen. Ein Zyklus dauert 60 bis 80 Jahre, zu deren Beginn es zu einer leichten Erwärmung kommt, die die Verdunstung des Wassers fördert. Die Wolken überqueren bei sommerlicher Westwetterlage England, wo die Zahl der Sonnenstunden sinkt.
Der von den britischen Wetterbehörden ermittelte AMO-Index steigt seit 1995 an. Diese Entwicklung wird aufgrund des AMO-Zyklus vermutlich noch 10 bis 20 Jahre anhalten. In England könnte es deshalb zu einem weiteren Anstieg der Rachitisfälle kommen, warnt Majeed – sofern keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Tatsächlich wird in England angesichts der steigenden Rachitisfälle den Eltern bereits empfohlen, die Rachitisprophylaxe mit Vitamin D bis ins Alter von 5 Jahren fortzusetzen.
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