Medizin: Jahresrückblick 2010

Adipositas: Gescheiterte Medikamente
Haben sie auch über die Feiertage zugenommen? Dann sind Sie nicht der einzige. Die Gewichtszunahme zwischen Weihnachten und Neujahr und die fehlende Disziplin danach gehören zu den Gründen für die schleichende Gewichtszunahme, die als epidemische Adipositas nicht nur in den USA unübersehbar geworden ist.
Eine Alternative für ein Maßhalten beim Essen und körperliche Bewegung gibt es nicht. 2010 war kein gutes Jahr für die medikamentöse Therapie der Adipositas. Im Januar zog die europäische Arzneibehörde EMA die Konsequenz aus den Zwischenergebnissen der SCOUT-Studie.
Reduktil® (Wirkstoff Sibutramin) wurde in Europa und später auch in den USA vom Markt genommen. Im Laufe des Jahres scheiterten dann auch zwei weitere Diätpillen, nämlich Qnexa® (Wirkstoffe: Phentermin plus Topiramat) und Lorcaserin. Bei beiden stehen die Risiken in einem ungünstigen Verhältnis zur begrenzten Wirkung.
Im Rennen ist derzeit nur noch Contrave®, eine Kombination mit dem Opioid-Antagonisten Naltrexon und dem Antidepressivum Bupropion, das möglicherweise 2011 in den USA zugelassen wird. Der einzige verschreibungsfähige Schlankmacher ist Orlistat. Wegen der unangenehmen Steatorrhoe ist er als Lifestyle-Pille nur bedingt geeignet.
Oder doch lieber eine Operation?
Für die steigende Zahl von Menschen mit morbider Adipositas kommen Diäten und Medikamente ohnehin zu spät. Die einzig wirksame Therapie könnte eine Adipositas-Chirurgie sein. In den USA hat die Zahl der bariatrischen Operationen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Jedes Jahr sollen sich bereits 220.000 US-Amerikaner einem Eingriff zur Magenverkleinerung oder Darmverkürzung unterziehen.
Studien zeigen, dass die Operation nicht nur zu einer deutlichen Gewichtsreduktion führt. Auch der Typ-2-Diabetes mellitus bessert sich schlagartig, häufig noch bevor die Patienten abgenommen haben. Die FDA wird die Indikation vermutlich demnächst ausweiten: Bei einem BMI von 35 (oder 30 bei Vorerkrankungen) käme die Therapie für 27 Millionen US-Amerikaner infrage.
Das Magenband könnte bald Teil des American Way of Life sein. Und mit einiger Verzögerung dürfte die Welle auch nach Europa überschwappen. In Großbritannien hat die Zahl der Eingriffe in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Darmkrebs: Lebensstil, ASS und Sigmoidoskopie
Ob eine bariatrische Operation auch vor Darmkrebs schützen kann – was sicherlich eine sehr provokative Hypothese ist – wurde bisher nicht untersucht. Ein normales Körpergewicht gehört jedoch neben einer gesunder Ernährung (die die Operation sicher nicht erzwingt), Sport, dem Verzicht auf Zigaretten und übermäßigen Alkoholkonsum zu den fünf Faktoren die einer prospektiven Kohortenstudie zufolge ein Viertel aller Darmkrebserkrankungen verhindern könnte.
Krebsfrüherkennung
Damit bleiben drei von vier Erkrankungen ungeklärt, und gute Gründe, sich auch bei vorbildlicher Lebensweise an der Krebsfrüherkennung zu beteiligen. Standard ist in den USA und Deutschland die Koloskopie, zu der sich aber bisher nur eine Minderheit durchringen kann.
In Großbritannien wird überlegt, ob eine Sigmoidoskopie nicht eine sinnvolle Alternative ist. Sie ist nicht nur für den Patienten weniger unangenehm, sondern auch kostensparender, zumal sie – nach angelsächsischer Sicht – auch von einer Krankenschwester durchgeführt werden könnte.
Laut einer Studie des Medical Research Council könnte die „kleine“ Darmspiegelung” die Darmkrebsmortalität um etwa 30 Prozent senken. Sie würde vielleicht Kosten senken, für den Patienten ist sie allerdings kaum unangenehmer, da die Qual der Darmreinigung die gleiche bleibt.
Als Kombination könnte sich eine Darmkrebsprävention mit ASS anbieten, die laut einer Meta-Analyse die Darmkrebsrate um ein Viertel senkt. Die präventive Wirkung konzentriert sich dabei auf Darmkrebserkrankungen im proximalen Darm, was die Kombination mit einer Sigmoidoskopie nahe legen würde.
ASS könnte darüber hinaus die Früherkennung mittels Stuhltest auf okkultes Blut verbessern, wie jüngst eine Studie des Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg ergab.
Keine Chemoprävention des Prostatakarzinoms
Ob die Einnahme von ASS zur Darmkrebsprävention sinnvoll ist, dürfte dennoch umstritten bleiben. Die ältere Idee einer Primärprävention des Herzinfarktes scheiterte bekanntlich an den gastrointestinalen Nebenwirkungen des Mittels. Auch beim Darmkrebs fehlt eine Nutzen-Risiko-Abschätzung.
Wie schwierig es sein kann, die Zulassung für eine Primärprävention zu erhalten, mussten in den letzten Wochen die Hersteller GlaxoSmithKline und Merck (MSD) erfahren. Beide konnten in Studien zeigen, dass ihre 5-Reduktase-Inhibitoren Dutasterid und Finasterid die Häufigkeit von bioptisch gesicherten Prostatakarzinomen signifikant um etwa ein Viertel senken.
In den randomisierten Studien war es dann überraschenderweise aber auch zu einem Anstieg von High-Grade-Tumoren gekommen. Dies könnte zwar ein Artefakt sein: Die Mittel verkleinern die Prostata, was die Detektion des Karzinoms in der Biopsie erleichtern könnte. Ausschließen ließe sich eine schädigende Wirkung der beiden Medikamente in der Primärprävention nur durch den Nachweis einer Senkung der krebsspezifischen und der Gesamtmortalität.
Bis zu diesem Nachweis wird die Krebsprävention nur ein möglicher Zusatznutzen für Patienten sein, denen die Medikamente zur Behandlung der benignen Prostatahyperplasie verordnet werden.
… aber ein Impfstoff
In den USA wurde im April mit Sipuleucel-T erstmals eine sogenannte therapeutische Vakzine gegen eine Krebserkrankung zugelassen. Der Impfstoff soll nicht vorbeugen, sondern bei Patienten, die bereits am Prostatakrebs erkrankt sind, die Immunabwehr gegen den Tumor verstärken. Sipuleucel-T darf vorerst nur bei Patienten mit hormonrefraktärem Prostatakarzinom, also in einem sehr fortgeschrittenen Stadium eingesetzt werden.
Dennoch bedeutet die Zulassung eine Zäsur. Ähnliche Impfstoffe werden auch für andere Krebserkrankungen entwickeln. Als Beispiel sei nur der Prototyp eines Brustkrebs-Impfstoffs genannt, den US-Forscher entwickelten und der bei Mäusen nicht nur bereits existente Tumore verkleinerte, sondern die Tiere auch vor einer Erkrankung schützte.
Gen, Genom, Mikrobiom
Der Preisverfall macht es möglich: Die Sequenzierung des menschlichen Genoms ist kein singuläres Ereignis mehr. Im Rahmen des 1000-Genome-Projekts sollen die Gene verschiedener Ethnien entschlüsselt werden. Dies erlaubt interessante Einblicke auf den Einfluss, den die Umwelt langfristig auf das Erbgut nimmt.
Die Bewohner der Kalahari, deren Genom im Februar vorgestellt wurde, verfügen über Gene, die sie im Laufen ausdauernder machen und sie beim Schwitzen weniger Salz verlieren lassen. Ein zusätzliches Amylase-Gen verbesserte die Verwertung der Nahrungsmittel und xenobiotischen Gene in der Leber erweitern die Nahrungspalette.
Die Genforscher interessieren sich längst nicht mehr nur für die menschlichen Gene. Mehr als 90 Prozent der Erbmasse im menschlichen Körper befindet sich außerhalb der menschlichen Zellen in den Bakterien, die unseren Darm besiedeln. Die erste genetische „Volkszählung“ ergab, dass dieses Mikrobiom etwa 150-fach größer ist als das Genom.
Die Forscher vermuten, dass es einen großen Einfluss auf die Nahrungsaufnahme hat und erklären könnte, warum einige Menschen ihr Gewicht leichter halten könnten als andere. Über die Kommunikation zwischen Bakterien und Immunsystem könnten die Darmgene auch Krankheiten wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa beeinflussen.
Nobelpreis für Pionier der In-vitro-Fertilisation
Mehr als drei Jahrzehnte nach der Geburt des ersten „Retortenbabys“ Louise Brown wurde der Pionier der In-Vitro-Fertilisation Robert Edwards mit dem Nobelpreis geehrt. Es war zugleich die Geburtsstunde der „Repromedizin“, mit deren Unterstützung mittlerweile 4 Millionen Menschen gezeugt wurden.
Die ablehnende Haltung der katholischen Kirche zeigt, dass dieser Eingriff in die Natur bei vielen Menschen weiterhin auf grundsätzliche Bedenken stößt. Auch über die medizinischen Risiken der IVF wird weiterhin diskutiert. Im Raum stehen ein leicht erhöhtes Risiko von Fehlbildungen sowie eine erhöhte Rate von Totgeburten.
DSM-V: Neue psychiatrische Erkrankungen
Im Februar hat die American Psychiatric Association erste Einblicke in die 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) ermöglicht, das im März 2013 erscheinen soll. Das Standardwerk will stärker als bisher die ethnische Herkunft der Patienten bei der Diagnose berücksichtigen.
Überarbeitet wurde unter anderem die Definition von Autismus, das als Spektrum denn als einzelne Entität definiert wird. Die Spielsucht soll künftig der Drogensucht gleichgesetzt werden. Neu sind auch „Risikosyndrome“ auf Psychosen und Demenz, was wegen der Ausweitung der medikamentösen Therapie kritisch beurteilt werden dürften.
Die Gefahr einer Medizinalisierung besteht auch beim „temper dysregulation with dysphoria“ oder TDD-Syndrom, das die Stimmungsschwankungen vieler Kinder und Teenager beschreibt, die bisher eher als Erziehungsproblem gesehen wurden.
Diabetes: Umdenken bei den Therapiezielen
Diabetologen mussten in 2010 umdenken. Das bisherige Ziel den HbA1c-Wert bei Diabetikern auf den Normalwert des Gesunden zu senken, musste nach den enttäuschenden Ergebnissen der ACCORD-Studie fallen gelassen werden.
Diabetes-Therapie: Besseres Outcome ist gegen Nebenwirkungen abzuwägen
Diabetes: Intensive Blutzuckerkontrolle verlangsamt Retinopathie
Die Gefahr einer medikamentös induzierten Hypoglykämie scheint bei vielen Patienten größer zu sein als der langfristige Nutzen eines normoglykämischen Stoffwechsels. Auch die sich summierenden Nebenwirkung der Medikamente bei einer Polytherapie könnten eine Rolle spielen.
Viele Diabetologen geben sich inzwischen mit einem HbA1c-Wert im Bereich von 7 bis 8 Prozent zufrieden, nachdem die aggressive blutzuckersenkende Therapie nicht die erhoffte Reduktion von Spätkomplikationen (mit Ausnahme der Retinopathie) ergeben hat. Auch in der Blutdruckkontrolle mussten die Zielwerte angepasst werden, da der erstrebte Normalwert des Gesunden beim Typ-2-Diabetiker in der Studie ohne Vorteile blieb.
Vor diesem Hintergrund dürfte es für die Versorgungsqualität von Diabetikern kein großer Verlust sein, dass die Europäische Zulassungsbehörde EMA Ende September die Zulassung von Rosiglitazon suspendierte, auch wenn der Verdacht, dass das Mittel neben den bekannten Risiken einer Herzinsuffizienz und von Knochenbrüchen (bei Frauen) auch die Rate von Herzinfarkten erhöht, nicht sicher belegt ist. Die FDA entschied sich deshalb, das Mittel auf dem Markt zu belassen und nur mit Restriktionen zu belegen.
HIV: Neue Wege der Prävention
Vor einer HIV-Infektion schützen am besten Enthaltsamkeit oder Kondome. Beliebt sind beide Methoden nicht, weshalb es auch nicht gelungen ist, die HIV-Epidemie zu stoppen, schon gar nicht in Sub-Sahara-Afrika.
Als Fortschritt wurden deshalb zwei Studien gewertet, in denen es immerhin gelungen ist, die Ansteckungsrate in Hoch-Risiko-Gruppen zu vermindern. Dies ist einmal durch ein Vaginalgel möglich, das den antiretroviralen Wirkstoff Tenofovir enthält. Er senkte die Ansteckungsrate um die Hälfte – allerdings nur, wen die Frauen das Gel auch regelmäßig anwendeten, was allerdings nur selten der Fall war.
Die zweite Möglichkeit ist die tägliche Einnahme einer Tablette aus Emtricitabin plus Tenofovir, die in einer im November veröffentlichten Studie das Ansteckungsrisiko ebenfalls halbierte. Auch hier wären die Ergebnisse besser gewesen, wenn die Teilnehmer sich an die Anordnungen gehalten hätten.
Die beste Prävention von HIV in den Industrieländern könnte eine konsequente und frühzeitige Therapie der HIV-Erkrankung sein, wie Studien zeigen, die auf dem die XVIII. Internationalen AIDS-Konferenz in Wien vorgestellt wurden. So ist in Kanada die Zahl der Neudiagnosen seit der Einführung der hochaktiven antiretroviralen Therapie um mehr als die Hälfte gesunken.
Seit die Indikation auf HIV-Infizierte mit vergleichsweise hohen CD4-Zahlen ausgeweitet wurde, sank die Zahl um ein Viertel. Der ungeschützte Verkehr mit einem HIV-Infizierten, der zuverlässig seine Tabletten einnimmt, ist unter Umständen weniger gefährlich als Sex mit einem Unbekannten, vor allem wenn dieser zu einer der Hochrisikogruppen gehört. Sicherer ist jedoch in beiden Fällen ein Kondom.
Importierte Antibiotika-Resistenzen
Auch in deutschen Krankenhäusern bereiten multiresistente Bakterien nehmend Probleme. Der vermehrte Einsatz von Reserveantibiotika hat die Bildung und Ausbreitung von Carbapenem-resistenten Stämmen gefördert. Für Schlagzeilen sorgte im letzten Jahr das Auftreten von Klebsiellen, die über eine New-Delhi Metallo-Beta-Lactamase (NDM-1) verfügen.
NDM-1-Stämme sind auf dem indischen Subkontinent verbreitet, was den indischen Gesundheitsminister veranlasste, schlechte hygienische Verhältnisse an den Kliniken des Landes zu dementieren. Der eigentliche Grund dürfte in der unkritischen Anwendung von Antibiotika liegen, wie indische Mediziner im Journal of Association of Physicians of India im März einräumten.
Im Darm von Touristen und Migranten gelangen NDM-1-resistente Erreger auch nach Europa. Sollten sie sich ausbreiten, könnten die therapeutischen Optionen weiter eingeschränkt werden. Besonders brisant ist, dass die Gene für die NDM-1-Resistenz auf Plasmiden kodiert sind und deshalb über die Grenzen der Bakterienspezies leicht ausgetauscht werden könnten. Gelegenheiten für diesen Austausch sind im Darm reichlich vorhanden.
… und problematische Medikamente
Die Resistenzen zwingen zum Einsatz von älteren Antibiotika, die aufgrund ihrer schlechten Verträglichkeit früher vermieden wurden. Aber auch die wenigen Innovationen sind nicht frei von Risiken. So stellte sich im letzten Jahr heraus, dass der Einsatz von Tigecyclin mit einem erhöhten Sterberisiko assoziiert ist. Dies zwingt zu einem besonders zurückhaltenden Einsatz, es könnte aber auch dazu beitragen, dass sich erst spät Resistenzen ausbilden.
Schweinegrippe überwunden?Überwunden schien die 2010 die Neue Influenza H1N1. In Europa ließen sich 32 Millionen Menschen impfen. Da die Epidemie relativ glimpflich verlief, hatten vielen den Eindruck, dass die Impfung eigentlich unnötig war. Doch H1N1 ist nicht verschwunden. Das Virus ist der dominierende Stamm der Grippe-Saison 2010/11 und die Entscheidung ihn in den diesjährigen Impfstoff aufzunehmen, hat sich als richtig erwiesen.
Multiple Sklerose: Warten auf orale Medikamente
Europäische Patienten mit multipler Sklerose mussten 2010 weiter auf die Zulassung des ersten oralen Medikaments warten. In den USA wurde Fingolimod zugelassen. Das Mittel verhindert den Austritt von antigen-aktivierten Lymphozyten aus den Lymphknoten. Der Weg ins Gehirn, wo sie Myelinscheiden zerstören, ist ihnen dadurch verstellt.
Fingolimod beeinträchtigt allerdings auch die Immunabwehr, weshalb eine vermehrte Infektionsbereitschaft zu den Nebenwirkungen gehört. Auf der anderen Seite war das Medikament im direkten Vergleich einer Interferon-Therapie überlegen. Eine Zulassung für Europa wird im 2011 erwartet.
Ein anderer oral verfügbarer Wirkstoff, Cladribin, wird dagegen in Europa nicht eingeführt. Die EMA lehnte eine Zulassung von Cladribin aufgrund eines erhöhten Krebsrisikos und einer Häufung von Lymphopenien ab.
Dass der Grat zwischen Nutzen und schweren Komplikationen bei der multiplen Sklerose schmal ist, wissen die Therapeuten von der Erfahrungen mit Tysabri®. Der Wirkstoff Natalizumab verhindert ebenfalls den Eintritt von Lymphozyten ins Gehirn und untergräbt dadurch die Immunabwehr. Das JC-Virus, ein für Gesunde harmloser Erreger, kann dann eine progressive multifokale Leukenzephalopathie auslösen. Bis Januar 2010 wurden 31 dieser lebensgefährlichen Komplikationen gezählt, darunter etliche in Deutschland.
Knochenbrüche durch Osteoporose-Medikament?
Das ansonsten exzellente Nebenwirkungsprofil der Bisphosphonate wurde 2010 durch Berichte über ungewöhnliche Knochenbrüche bei Langzeitanwenderinnen belastet. Die atypischen Frakturen waren nach einer Behandlungszeit von drei bis fünf Jahren am Femurschaft (Diaphyse oder subtrochantere Region) aufgetreten.
Ob sie tatsächlich auf die Behandlung mit den Bisphosphonaten zurückzuführen sind, ist unklar. Die Frakturen sind aber deutlich seltener als die typischen Frakturen am Femurhals, die durch die Behandlung mit den Bisphosphonaten verhindert werden. Eine Einschränkung der Anwendung oder gar ein Verbot stehen deshalb derzeit nicht zur Diskussion. Die FDA riet den Patienten jedoch auf mögliche Frühwarnzeichen achten. Verdächtig sind ungewöhnliche dumpfe Schmerzen im Oberschenkel.
Magenprotektion als kardiales Risiko
Auch Protonenpumpeninhibitoren (PPI) könnten das Knochenbruchrisiko erhöhen, warnte die FDA im Mai. Besonders heftig wurde allerdings über die möglichen Folgen einer Wechselwirkung von PPI mit Clopidogrel diskutiert. Die Medikamente werden häufig gleichzeitig verordnet, da PPI die gastrointestinale Verträglichkeit der dualen Antithrombozytenhemmung verbessert.
Auf Clopidogrel plus ASS kann vor allem bei den medikamentenfreisetzenden Stents nicht verzichtet werden, da jede Stentthrombose zu einem lebensgefährlichen Herzinfarkt führt. Clopidogrel ist allerdings ein Prodrug, das in der Leber aktiviert werden muss.
Dies geschieht ausgerechnet mithilfe eines P450-Enzyms, über das PPI abgebaut werden. Die Konkurrenz vermindert die Clopidogrel-Konzentration im Blut. Die klinische Relevanz dieses Befunds wurde allerdings durch eine randomisierte Studie infrage gestellt. Die FDA rät vorsichtshalber zur Verordnung von Pantoprazol als dem PPI mit der geringsten Interaktion am P450-System.
Asthma: Verbot der LABA-Monotherapie
Die FDA hat im Februar den Einsatz von langwirksamen Beta-Agonisten (LABA) als Monotherapie des Asthma bronchiale untersagt. Diese Therapie entsprach allerdings gar nicht der geltenden Leitlinie. Auch die Ende 2009 publizierte Nationale Versorgungsleitlinie Asthma sieht LABA nur als Zusatz zu einer inhalativen Kortikoidtherapie vor. Die Monotherapie mit LABA ist riskant: In der SMART-Studie war es zu einem Anstieg der asthmabedingten Todesfälle gekommen.
Statine: Medikamente mit Appeal
Vor allem in den angelsächsichen Ländern haben Statine einen gewissen therapeutischen „Appeal“. Ihr Nutzen soll größer sein, als es vom Wirkungsmechanismus her einleuchtet. Im letzten Jahr erschienen Studien, nach denen Statine bei Epileptikern das Anfallrisiko reduzieren oder bei Prostatakrebs die Prognose verbessern sollen. Die Evidenzbasis ist meistens nur schwach.
Eine Ausnahme bildet hier die JUPITER-Studie. Diese randomisierte Studie hat die FDA im Februar bewogen, die Indikation von Statinen auf kardiale Risikopatienten auszuweiten, die gar keinen erhöhten Cholesterinwert haben.
Im Prinzip könnte allen Männern über 50 und allen Frauen über 60 Jahren ein Statin verordnet werden, sofern ein Anstieg des hochsensitiven CRP auf ein entzündliches Geschehen an den Gefäßen hinweist. Die Number Needed to Treat, die behandelt werden müssen, um bei ein kardiovaskuläres Ereignis zu vermeiden war, ist jedoch hoch.
Der Nutzen der Therapie bleibt deshalb umstritten. Nicht ernst zu nehmen war die Forderung britischer Kardiologen, die „McStatin“ zum Bestandteil für ein „glücklich“ verdautes Mahl einer Fastfoodkette erklärten – was aber nicht umgesetzt wurde.
Spielsüchtig durch Parkinsonmedikamente
Zu den kuriosen, für Patienten und Angehörige aber oft sehr störenden Nebenwirkungen gehören Zwangsstörungen, die unter Dopaminagonisten keinesfalls selten sind. Spielsucht, Kaufrausch, Essattacken und ein gesteigerter Sexualtrieb gehörten nach den Ergebnissen einer US-Studie zu den Folgen der Therapie.
Anti-Aging: Testosteron erhöht Herzinfarktrisiko
Testosterone werden nicht nur von Bodybuildern verwendet. Auch die Anti-Aging-Medizin verspricht ihren älteren männlichen Klienten den Erhalt der Jugend. In Wirklichkeit könnten die Medikamente jedoch das kardiale Risiko erhöhen und das Leben verkürzen, warnten Endokrinologen im vergangenen Jahr.
Schädliche Operationen: Studienabbruch wegen Implantat-Erosionen
Nicht nur bei Medikamenten müssen Nutzen und Risiken sorgfältig gegeneinander abgewogen werden, was im Idealfall in randomisierten Studien geschieht. Auch bei Operationen kann ein vermeintlicher kurzfristiger Vorteil eine nicht akzeptable Komplikation überdecken. Dies war in einer – der wenigen – Studien zur operativen Korrektur des Descensus uteri der Fall. Die Studie musste abgebrochen werden, weil es bei jeder sechsten Patientin zu einer Erosion des Implantates gekommen war.
Unbegründete Virenfurcht
Die HIV-Epidemie hat gezeigt, welche Risiken von Retroviren ausgehen können. Die Entdeckung von genetischen Spuren des Xenotropic murine leukaemia virus-related virus (XMRV) im Blut von Patienten mit chronischem Müdigkeitssyndrom und in den Gewebeproben wurde deshalb als bedrohlich empfunden. Inzwischen scheint klar, dass es sich um Kontaminationen im nachweisenden Labor handelt. Diese Gefahr ist beim Hantieren mit den hochsensitiven Gensonden nicht auszuschließen.
Viren, genauer genetische Spuren des „porcinen circovirus 1“ (PCV-1) wurden auch in den beiden Impfstoffen gegen Durchfallerkrankungen Rotarix® und RotaTeq® gefunden. Aus ungeklärten Gründen waren Virusgene in Chargen gelangt. Vermutlich waren sie bereits in den Zellkulturen vorhanden, die in der Entwicklungsphase des Impfstoffs verwendet wurden und die Ausgangsmaterial für die spätere Impfstoffherstellung bildeten. Rotarix wurde in USA zwischenzeitig vom Markt genommen. Doch auch hier war die Furcht nach Ansicht der Behörden unbegründet. Ein Risiko für die Gesundheit bestehe nicht, hieß es später.
Medizinische Visionen und Fiktionen Ein Retinaimplantat mit einer Auflösung von 38 x 48 Pixeln hat es einem Patient mit Retinitis pigmentosa nach vielen Jahren erstmals wieder ermöglicht, Gegenstände zu erkennen. Von der Leistungsfähigkeit einer Webcam ist die Innovation einer deutschen Firma sicher derzeit noch weit entfernt. Aber auch die Cochlear Implants haben sich nicht sofort durchgesetzt. Heute sind sie Standard bei der Behandlung der angebotenen Taubheit, auch wenn sie keinen HiFi-Hörgenuss erlauben.
Ob die Stammzellen, mit denen Schlaganfallpatienten in Schottland behandelt wurden, helfen werden, verloren gegangene Fähigkeiten zurückzugewinnen, wird man frühestens nach dem Abschluss der ersten klinischen Studie wissen. Da die Plastizität des Gehirns auch ohne Stammzellen eine gewisse Erholung ermöglicht, dürfte die Beurteilung des Therapieerfolgs allerdings nicht einfach sein.
Sehr skeptisch beurteilt werden nach wie vor die Chancen, mittels Stammzellen eine traumatische Rückenmarksläsion zu überwinden. Immerhin müssten Tausende von durchtrennten Axonen zur Regeneration bewegt werden, und sie müssten frühere Kontakt zu den richtigen nachfolgenden Neuronen knüpfen. Dass die Behandlung eines ersten Patienten in eine US-Klinik erfolgreich verlaufen ist, erscheint anderen Experten als extrem unwahrscheinlich.
Mehr Fiktion als Vision sind derzeit auch die Versuche einen künstlichen Darm aus Stammzellen zu konstruieren. Auch der nachwachsende Humeruskopf, den US-Forscher am Kaninchen erfolgreich erprobt haben, dürfte auf absehbare keine Alternative zum künstlichen Gelenkersatz sein, da die Besiedlung mit Stammzellen und die Regenerierung Monate erfordern würde, während die Patienten nach einer “TEP” schon nach wenigen Tagen mobilisiert werden. Fraglich ist auch, ob die Kunsthaut, die kalifornische Ingenieure aus berührungsempfindlichen Membranen entwickelten, jemals Bestandteil von Prothesen wird.
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