Medizinischer Kinderschutz: Alle Arztgruppen müssen genauer hinsehen

Berlin – Bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die körperliche und sexuelle Gewalt erlitten haben, bedarf es flächendeckender Kinderschutzstrukturen im Gesundheitswesen. Darauf wiesen Experten bei der 15. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) hin, die am vergangenen Freitag und Samstag in Berlin stattfand.
„Es ist immer noch Zufall, wie gut ein Kind versorgt wird, denn die Versorgungslücken im Kinderschutz sind groß“, sagte Bernd Herrmann, Leiter der Ärztlichen Kinderschutz- und Kindergynäkologieambulanz am Klinikum Kassel und 1. Vorsitzender der DGKiM. „Kinderschutz ist abhängig vom individuellen Engagement der Akteure und läuft neben und über die sonstige Patientenbehandlung hinaus“, sagte er. Planstellen oder Finanzierungsmodelle seien kaum vorhanden.
Medizinische Kinderschutzgruppen sollten der DGKiM zufolge an jeder Klinik in Deutschland vorgehalten werden; bisher seien sie erst an etwa jeder zweiten Klinik vorhanden. „Dabei hat der Gemeinsame Bundesausschuss bereits 2020 seine Qualitätsmanagement-Richtlinie um Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche in medizinischen Einrichtungen ergänzt“, erklärte Herrmann. Kinderschutzgruppen sollten im Rahmen einer Vorhaltefinanzierung berücksichtigt werden, so die Forderung.
Darüber hinaus forderte der DGKiM-Vorsitzende, dass alle Fachkräfte im Gesundheitswesen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiteten, Grundkenntnisse im Kinderschutz haben sollten. „Wir brauchen Kinderschutz in der Breite, alle Arztgruppen müssen genau hinsehen“, sagte auch Sibylle Winter, Professorin für Traumafolgen und Kinderschutz, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, an der Charité, Campus Virchow.
Nur durch die Schaffung von fachlichen Standards und Handlungsempfehlungen sei frühes Erkennen und Behandlung von kindeswohlgefährdeten Patientinnen und Patienten möglich.
Notwendig ist der Kinderschutzexpertin und der DGKiM zufolge auch die flächendeckende Einrichtung von medizinischen Kinderschutzinstitutsambulanzen an Kliniken. Eine zunehmende Rolle spielten die sogenannten Childhood-Häuser, die es inzwischen in Leipzig, Heidelberg, Berlin, Düsseldorf, Ortenau, Hamburg, Schwerin, Flensburg, München und Frankfurt gibt.
In einem Childhood-Haus werden von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche interdisziplinär von medizinischen, psychologischen sowie Fachkräften aus Kinderschutz, Jugendhilfe, Gericht und Polizei betreut beziehungsweise befragt. Alle Professionen kommen dabei zu dem gewaltbetroffenen Kind und nicht umgekehrt. Ein kindzentriertes interdisziplinäres Management sollte der DGKiM zufolge grundsätzlich immer angestrebt werden.
Die DGKiM spricht sich darüber hinaus für die Einrichtung von überregionalen, transdisziplinären Kinderschutzkompetenzzentren in allen Bundesländern aus. Die bestehenden Zentren sollten verstetigt werden.
Wie wichtig politisches Lobbying für den Kinderschutz sei, machte Jörg Fegert, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, deutlich. Durch Netzwerkarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und dem Pflegen von Beziehungen in Ministerien und Politik seien Fortschritte erreicht worden und die Bedeutung von Kinderschutz sichtbarer geworden.
Fegert zeigte sich erfreut, dass die Verstetigung der Medizinischen Kinderschutzhotline (Telefon 0800-1921000) Eingang in den aktuellen Gesetzentwurf zur „Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ aus dem Bundesfamilienministerium gefunden hat.
Die Folgen von Kindesmisshandlung für das Erwachsenenalter sind Depression, Angststörungen, Substanzmissbrauch, chronische Schmerzen, kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen, Immunerkrankungen sowie Suizid. Darauf wies Christine Heim, Professorin am Institut für Medizinische Psychologie der Charité, Universitätsmedizin Berlin, hin.
Frühe Traumatisierung hinterlasse „biologische Narben“, wie eine erhöhte Stress-Sensibilisierung, schwächeres Immunsystem, verringertes Volumen des Hippocampus und beschleunigte epigenetische Alterung.
Die Deutsche Traumafolgekostenstudie beziffert die gesellschaftlichen Schäden in Deutschland auf mindestens elf Milliarden Euro jährlich, davon 0,5-3,3 Milliarden Euro jährlich allein im Gesundheitswesen.
Grundsätzlich verdeutlichten alle Experten der DGKiM-Fachtagung, dass eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung notwendig sei, um Misshandlung und Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vorzubeugen. Das Thema müsse enttabuisiert werden, damit darüber gesprochen werden könne.
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