Vermischtes

Kinderschutz: Vernachlässigung ist kein Randgruppenphänomen

  • Freitag, 6. September 2024

Berlin – Emotionale und körperliche Vernachlässigung können erhebliche Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen haben. Bei der Medizinischen Kinderschutzhotline (MKS) ist die Vernachlässigung tatsäch­lich der häufigste Grund für Anfragen.

„Wir hören weiterhin große Unsicherheiten im Umgang mit vernachlässigten Kindern“, sagte Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm bei dem Fachtag der MKS mit dem Titel „Erhebliche Vernachlässigung“ gestern im Bundesfamilien­ministerium in Berlin.

Die Medizinische Kinderschutzhotline ist ein kostenfreies deutschlandweites telefonisches Beratungsangebot für Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten bei allen Fragen zum Kinderschutz (0800/1921000). Geschulte Ärztinnen und Ärzte beraten dort rund um die Uhr.

Projektleiter Fegert forderte bei dem Fachtag von der Politik nicht nur die seit 2016 bestehende Hotline wie vorgesehen zu verstetigen, sondern auch die 24-Stunden-Erreichbarkeit gesetzlich langfristig abzusichern. Das entsprechende „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ befindet sich zurzeit im parlamentarischen Verfahren.

„Wenn man Erwachsene fragt, ob sie mittelschwere Vernachlässigung oder Misshandlung in der Kindheit erlebt haben, so wie wir im ‚Childhood Trauma Questionnaire‘, dann bejahen ein Drittel der Befragten das“, berichtete der Wissenschaftler. „Vernachlässigung ist kein Randgruppenphänomen.“ Insgesamt liege Vernach­lässigung an der Spitze der festgestellten Misshandlungsformen, und sei bei Kindern unter einem Jahr am häufigsten, berichtete Fegert.

Der Jugendhilfestatistik zufolge waren 2022 in Deutschland 36.736 Fälle von Vernachlässigung zu verzeich­nen, gefolgt von psychischer Misshandlung mit 21.943 Fällen, körperlicher Misshandlung (16.555 Fälle) und sexuellem Missbrauch (3.386 Fälle). Die Fälle sind im Vergleich zu 2019, also vor der Coronapandemie, an­ge­stiegen: Vernachlässigung (32.476), psychische Misshandlung (17.793), körperliche Misshandlung (15.063), sexueller Missbrauch (3.386).

„Vernachlässigung ist schwerer zu definieren als andere Misshandlungsformen – es ist ein Nichthandeln von Eltern, ein Nichtwahrnehmen von Fürsorgepflichten, in ihren Folgen auch abhängig vom Alter der betroffenen Kinder“, erläuterte der Kinder- und Jugendpsychiater.

Für Säuglinge sei Vernachlässigung, etwa mangelnde Ernährung, relativ schnell lebensbedrohlich; ein Schul­kind könne sich hingegen in einem wohlhabenden Land noch selbst helfen, leide aber langfristig unter Man­gelernährung. Verkehrsunfälle oder Fensterstürze seien eine Folge von fehlender Aufsicht, also ebenfalls eine Vernachlässigung.

Mangelnde Zahnhygiene habe langfristige Folgen für die Zahngesundheit. Zahnärzte sehen laut Fegert an­hand des Zahnzustands sehr schnell eine Vernachlässigung, etwa in Form von Nuckelflaschenkaries. Bei fal­scher Kleidung im Winter friere das Kind nicht nur, auch soziale Ausgren­zung könne eine Folge sein; ebenso bei mangelnder Hygiene oder schmutziger Kleidung.

Emotionale Vernachlässigung, etwa bei Depression der Mutter, psychisch kranken oder suchtkranken Eltern habe langfristige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern. Auch unter einem gewalttätigen Umgang der Erwachsenen in der Familie oder bei einem längeren Aufenthalt im Frauenhaus „leiden die Kinder massiv“, so der Kinderpsychiater.

Auf die somatischen Folgen von Vernachlässigung wies Oliver Berthold von der Medizinischen Kinderschutz­hotline hin: Minderwuchs, Untergewicht, Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder inadäquat behandelte Erkrankungen. Lebensbedrohlich sei ein inadäquater Umgang mit Krankheit vor allem für chro­nisch kranke Kinder.

Bei Diabetes Typ I führe etwa eine fehlende Insulingabe zwangsläufig zum Tod, so der Kinder- und Jugendarzt. Wirkten Eltern beispielsweise einer Adipositas ihrer Kinder nicht entgegen, führe dies zu einem Metaboli­schem Syndrom, Gelenkverschleiß, Fettleber, Herzinfarktrisiko, sozialer Isolation und einer erhöhten Neigung zu Depression.

Wenn Ärzte und Psychotherapeuten vernachlässigte Kinder sehen, oder einen Verdacht haben, können sie sich immer an die Fachkräfte der MKS wenden, um das Vorgehen zu bera­ten. Sie können sich auch direkt an das zuständige Jugendamt wenden, im Idealfall ist der Ansprechpartner bekannt.

Um vernachlässigten Kindern zu helfen, empfiehlt Berthold eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Jugendhilfe und gegebenenfalls Familiengerichten. „Die Medizin muss mit ins Boot, nicht nur um zu sagen, welchen Schaden das Kind bereits genommen hat. Wir können die Erheblichkeit einschätzen, die dem Kind bei unverändertem Fortgang der Dinge droht, und wir können beurteilen, was das Kind aus medizinischer Sicht braucht, damit es sich gut entwickelt“, konstatierte der Kinder- und Jugendarzt.

PB

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