Mutterschaftsvorsorge: Ärzte widersprechen Bertelsmann-Studie

Berlin/Gütersloh – Scharfe Kritik an einer neuen Bertelsmann-Studie zur Schwangerenvorsorge üben der Berufsverband der Frauenärzte (BVF) und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Laut der Studie erhält fast jede schwangere Frau in Deutschland mehr Untersuchungen als von den Mutterschafts-Richtlinien vorgesehen. Die Autorinnen der Bertelsmann-Umfrage beklagen ein „Überangebot an Untersuchungen“, das Frauen verunsichern und die Kaiserschnittrate erhöhen könne.
Für die Studie wurden 1.293 in der Barmer GEK versicherte Frauen befragt, die zwischen November 2013 und Oktober 2014 ein Kind geboren hatten. Die Angaben zu den Untersuchungen verglichen die Studienautorinnen mit den Mutterschaftsrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses.
Der Befragung zufolge nutzten 99 Prozent der Frauen Präventionsmaßnahmen, die über die Mutterschaftsrichtlinien hinausgehen. Zu den von fast allen Frauen in Anspruch genommenen zusätzlichen Leistungen zählte etwa ein CTG, bei dem Herztöne des Kindes und Wehen der Mutter gemessen werden. Bei den Ultraschalluntersuchungen erhielten der Studie zufolge die Hälfte der Frauen mit einer normalen Schwangerschaft mehr als fünf Untersuchungen, obwohl standardmäßig nur drei vorgesehen sind.
80 Prozent der Frauen zahlen privat für die Untersuchungen
Insgesamt zeigten sich nur geringe Unterschiede zwischen Frauen mit einer unauffälligen Schwangerschaft und solchen, bei denen ein belastender Befund vorlag – zum Beispiel vorzeitige Wehen, eine Diabetes-Erkrankung oder eine Überschreitung des errechneten Geburtstermins um mehr als sechs Tage. Da es sich bei den zusätzlichen Leistungen nicht um Routineuntersuchungen handelt, mussten der Studie zufolge 80 Prozent der Frauen für die Untersuchungen privat bezahlen. Weder das Alter als Risikofaktor noch Einkommen oder Bildungsabschluss der Schwangeren hatten einen Einfluss darauf, ob Zusatzleistungen in Anspruch genommen wurden.
„Nur bei Frauen mit einem Risiko, das sich zum Beispiel im Verlauf der Schwangerschaft entwickelt, werden die Vorsorgeintervalle verkürzt, und das ist auch gut und sinnvoll“ argumentieren dagegen Berufsverband und Fachgesellschaft. Da heute deutlich mehr und ältere Frauen mit Risiken wie schweres Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes und dergleichen schwanger würden als vor 20 Jahren, könne es durchaus sein, dass sich insgesamt bezogen auf die Zahl der Schwangeren die durchschnittliche Zahl an Terminen erhöht habe – was aber sehr sinnvoll sei.
Diagnostische Möglichkeiten sind vielfältiger geworden
Dass heute viele Schwangere mehr diagnostische Leistungen erhielten als in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehen sei, liege unter anderem daran, dass es heute mehr Möglichkeiten gebe als vor zehn oder 20 Jahren, und dass die gesetzlichen Krankenkassen bisher nur die Kosten für Leistungen übernähmen, die auch wirtschaftlich seien, argumentieren BVF und DGGG weiter.
„Diagnostische Maßnahmen, die sinnvoll sind, sich für die Krankenkassen aber wirtschaftlich nicht rechnen, wie der Toxoplasmose-Test oder der Test auf Streptokokken in der Spätschwangerschaft, werden wir Schwangeren immer empfehlen, auch wenn sie keine Kassenleistungen sind“, betonen die Verbände der Frauenärzte.
Dies sei keine Medikalisierung der Schwangerschaft, sondern trage erheblich zur Senkung der Krankheitsrisiken potentiell infizierter Kinder bei. „Insbesondere der frühe Ausschluss einer Eileiterschwangerschaft, eines intrauterinen Hämatoms oder eine Myoms hat viele Leben gerettet. Das Ersttrimesterscreening verhindert sogar Fehlgeburten durch Vermeidung überflüssiger – invasiver – Amniozentesen“, so BVF und DGGG.
Herzfrequenz- und Wehen-Ableitungen erleichtern Hebammen und Ärzten die Beurteilung der Schwangerschaft
Die Verbände weisen darauf hin, dass viele Schwangere sich für ihren persönlichen Gebrauch Ultraschall-Bilder ihrer ungeborenen Babys in 3D oder anderen Formaten wünschten. „Da von Ultraschalluntersuchungen keine Gefahren für das Baby ausgehen, kommen Frauenärzte diesem Wunsch nach, wenn sie darum gebeten werden“, so BVF und DGGG. Daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, häufige Ultraschallaufnahmen in der Schwangerschaft würden die Kaiserschnittrate erhöhen, sei „eine gewagte Hypothese“.
Die Bertelsmann-Studie kritisiere außerdem häufige Herzfrequenz- und Wehen-Ableitungen. Diese Ableitungen seien nach den Mutterschaftsrichtlinien nicht zwingend vorgeschrieben. „Sie erleichtern aber Hebammen und Ärzten die Beurteilung der Schwangerschaft und helfen leichte Kontraktionen von echten Wehen zu unterscheiden, was überflüssige Ruhigstellungen der Schwangeren verhindern und sie selbst sehr beruhigen kann“, argumentieren die Frauenärzte.
BVF und DGGG betonen, dass nahezu alle von Frauenärzten in der Schwangerschaft angebotenen diagnostischen Leistungen evidenzbasiert seien, auch wenn sie nicht Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien seien. „Die Unterstellung, Frauenärzte – ebenso wie Hebammen – würden Schwangeren Leistungen nur anbieten, weil sie unter wirtschaftlichem Druck stehen, ist Unsinn“, betonen die Verbände.
Perinatale Mortalität um den Faktor zehn gesunken
Sie kritisieren, schon in der Formulierung der Befragung und in der Interpretation der Ergebnisse sei bei der Bertelsmann-Studie der Versuch erkennbar, die seit über 50 Jahren bewährte frauenärztliche Mutterschaftsvorsorge zu diskreditieren. „Immerhin ist in dieser Zeit die perinatale Mortalität um den Faktor zehn, die mütterliche um ein Vielfaches mehr gesunken. Damit steht Deutschland mit an der Spitze in der Welt“, betonen BVF und DGGG. Ein Wechsel dieses Systems würde die gesundheitliche Versorgung der Schwangeren und ihrer Babys „mit Sicherheit verschlechtern“, warnen die Fachverbände der Frauenärzte.
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