Medizin

Natalizumab: Risiko für progressive multifokale Leukoenzephalopathie unterschätzt

  • Mittwoch, 22. März 2017
Nervennetzwerk mit Myelinscheiden, die bei Patienten mit Multipler Sklerose vom Immunsystem angegroffen werden.
Bei MS greift das körpereigene Immunsystem die Myelinscheiden der Nervenfasern und/oder Neurone selbst an. / ralwel stock.adobe.com

Münster/Birmingham – Das Risiko, unter Natalizumab eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) zu entwickeln, könnte für Patienten mit multipler Sklerose (MS) höher sein, als bisher angenommen. Denn die in der klinischen Praxis ange­wandten Methoden zur PML-Risikostratifizierung stehen unter Verdacht, zu Fehlein­schät­zungen zu führen, schreiben Forscher der Universitätsklinik Münster und der Alabama University Birmingham in Neurology (2017; doi: 10.1212/WNL.0000000000003739). Als Fehlerquelle geben die Autoren unter anderem mathematische Schwächen bei der Risikobewertung auf Basis der Behandlungsdauer an. Ausschlaggebend sei das kumulative Risiko für Patienten.

Immunsuppressive Medikamente, wie zum Beispiel der monoklonale Antikörper Natali­zu­mab, kommen bei MS zum Einsatz, wenn Standardarzneien versagen. Jedoch geht Natalizumab mit einer zwar seltenen, aber bisweilen tödlich verlaufenden Nebenwirkung einher: PML, hervorgerufen durch das JC-Virus (JCV). Eine Risikobewertung vor und während der Natalizumab-Therapie ist daher vorgeschrieben. Zu den bekannten PML-Hauptrisikofaktoren zählen eine frühere Therapie mit Immunsuppressiva, Antikörper gegen das PML-verursachende JC-Virus sowie eine Behandlungsdauer mit Natalizumab länger als 24 Monate.

Forscher der Neurologischen Klinik der Universität Münster haben im Rahmen von Studien des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) die PML-Risikoberechnung neu bewertet. Sie zeigten, dass bisherige Berechnungsmodelle das PML-Risiko für MS-Patienten unterschätzen könnten.

Risiko für Patienten mit Immunsuppression unterschätzt

Laut einer 2012 im New England Journal of Medicine veröffentlichten klinischen Studie des Herstellers Biogen liegt die allgemeine PML-Inzidenz bei 2,13 pro 1.000 Patienten. Diese Zahlen werden bis heute der Risikoberechnung zugrun­de gelegt. Neuere Daten des Natalizu­mab-Herstellers von 2016 belegen jedoch eine fast doppelt so hohe PML-Inzidenz von 4,22 pro 1.000 Patienten.

Hinzu kommt: Die Zahl von Patienten mit vorangegangener Immunsuppression in der Kontrollgruppe wurde 2012 wahrscheinlich zu hoch eingeschätzt. Die Zahl der immun­supprimierten Natalizumab-Patienten, die eine PML entwickelten, wurde dagegen korrekt ermittelt. „Dies legt nahe, dass das tatsächliche PML-Risiko für Patienten mit einer früheren Immunsuppression höher ist, als angegeben“, sagt Heinz Wiendl, Leiter der Münsteraner Arbeitsgruppe und stellvertretender KKNMS-Vorstandssprecher.

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, zieht man den JCV-Serostatus zur Betrachtung heran. Hinsichtlich des PML-Risikos weist er eine zu geringe Spezifität auf, denn nur etwa ein Prozent der JCV-positiven Patienten entwickeln tatsächlich eine PML.

Kumulatives PML-Risiko ausschlaggebend

Ebenfalls kritisch sehen die Autoren die strikte Risikobewertung auf Grundlage der Behandlungsdauer. Der praxisübliche Algorithmus führe demnach zusätzlich dazu, dass das PML-Risiko unterschätzt werde. Denn er definiert für Patienten, die 48 Monate lang mit Natalizumab behandelt werden, ein genauso hohes Risiko wie für Patienten nach 25-monatiger Behandlung. „Dies ist jedoch aus zweierlei Hinsicht nicht richtig: Erstens steigt das statistische PML-Risiko mit jeder zusätzlichen Infusion sukzessive an. Zweitens wurden die Studiendaten 2012 nicht korrekt ausgelesen, weil Patienten, die die Therapie beispielsweise nur bis zum 26. Monat erhielten, so betrachtet wurden, als hätten sie diese über den gesamten beobachteten Zeitraum von 48 Monaten erhalten“, sagt Nicholas Schwab von der Neurologischen Klinik der Universität Münster, Studien­leiter und Erstautor des Artikels. Das kumulative Risiko sei daher ausschlaggebend.

Darüber hinaus inkludierten derzeitige Risikoberechnungen auch Kurzzeitpatienten. Diese haben jedoch generell ein geringeres PML-Risiko und verzerrten so die Statistik zugunsten einer insgesamt niedrigeren Risikobewertung.

Tipps für die Praxis

Da Therapiewechsel von Natalizumab häufig von MS-Aktivitätsschüben begleitet werden, sollten sich behandelnde Ärzte bereits vor Therapiebeginn das Risiko für ihre Patienten im Zeitverlauf bewusst machen. Für Patienten, die langfristig mit Natalizumab behandelt werden, sollten Ärzte daher individuell das kumulative PML-Risiko ermitteln. Eine Risikobewertung auf Basis kürzerer Behandlungsperioden kann zu falschen Sicherheitsannahmen führen. Regelmäßige und engmaschige Kontrollen von MS-Patienten während der Natalizumab-Therapie sind daher nach wie vor unerlässlich.

„Besondere Vorsicht im Sinne einer Virämie des JC-Virus ist geboten, wenn bei regelmäßigen Kontrollen von JCV-Titern bei mit Natalizumab behandelten Patienten plötzlich deutliche Titeranstiege auftreten“, sagt Ralf Gold, Präsidiumsmitglied der Deutsche Gesellschaft für Neurologie und Vorstandsvorsitzender des KKNMS.

gie/idw

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