Pandemie als Katalysator für digitale Süchte

Berlin – Die Zahl der Patientinnen und Patienten mit digitalen Süchten ist während der Pandemie gestiegen. Darüber hinaus sind immer mehr ältere Personen bis hinein ins Rentenalter von Internetsucht betroffen und suchen Hilfe in psychosomatischen Spezialambulanzen auf.
Das berichtete Klaus Wölfling von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz auf der heutigen Vorab-Pressekonferenz zum Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
„Seit 2021 verzeichnen wir einen Zuwachs von 25 Prozent bei den Behandlungen von Erwachsenen im Alter von 30 bis 67 Jahren“, erläuterte der Leiter der Ambulanz für Spielsucht. „Das sind Personen, die vorher überhaupt nicht in unserem Patientenkollektiv auftauchten.“
Die Pandemie habe wie ein Katalysator gewirkt – das Wegbrechen gewohnter Strukturen füllten viele mit Internetanwendungen, die sich zu Abhängigkeiten entwickelten. Diese Abhängigkeiten können sich auf Computerspiele, Chats, Soziale Netzwerke, Internetpornografie oder Onlineshopping beziehen. Gemeinsam ist den Betroffenen, dass sie ihr Konsumverhalten nicht mehr kontrollieren können.
Viele berichten laut Wölfling über die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen („Fear of missing out“): „Abhängige können dann etwa nicht mit dem Egoshooter aufhören, weil sie fürchten, ihren Spielstand zu verlieren und aus Spielergruppen herauszufallen“, so der Mainzer Diplompsychologe. Die Folge seien die Vernachlässigung von Beziehungen, der Verlust des Arbeitsplatzes, Verschuldung oder Krisen und Konflikte.
Wölfling zufolge können verschiedene Faktoren eine Internetsucht begünstigen – einer davon ist Einsamkeit. „Im Rentenalter ist Einsamkeit ein großer Treiber für Digitalsüchte, dann wird über Spiele ein soziales Netzwerk gefunden“, erläutert er.
Insbesondere währen der Pandemie hätten die Ruhezeiten während der Lockdowns viele Ältere dazu gebracht, digitale Medien häufiger und intensiver zu nutzen. Dass sich eine Sucht entwickelt hat, falle häufig den Kindern der Rentner auf – beispielsweise, wenn sie registrieren, dass die Eltern nicht mehr abwaschen oder einkaufen gingen.
Eine wichtige Rolle beim Erkennen von Suchtverhalten spielen Wölfling zufolge auch Hausärztinnen und Hausärzte. Würden Mediennutzungszeiten bereits in der Anamnese abgefragt, könnten digitale Süchte frühzeitig erkannt und behandelt werden.
In jedem Fall rät er Betroffenen, professionelle Hilfe aufzusuchen – beispielsweise bei einer Suchtberatung oder in einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Praxis. Dort müsse abgeklärt werden, ob das Verhalten noch problematisch ist oder bereits Suchtcharakter hat.
Ziel einer ambulanten Therapie sei die Abstinenz vom Problemverhalten. Im Rahmen von Verhaltens- und Gruppentherapien lernten die Betroffenen beispielsweise, Sexualität ohne Internetpornografie zu leben.
„Wir konnten in Mainz in einer randomisiert kontrollierten Studie wissenschaftlich sehr gute Effekte einer derartigen Therapie nachweisen“, so Wölfling. Die Multicenter-Studie zeige, dass die Behandlung es zehnfach wahrscheinlicher macht, am Ende abstinent und zufriedener zu sein.
Bei einem stark ausgeprägten Verhalten ist eine stationäre Therapie angeraten. Diese dauert meist sechs bis acht Wochen. „In solchen Fällen kann dem Suchtverhalten nicht mehr im häuslichen Umfeld begegnet werden“, betonte Wölfling. Die Patientinnen und Patienten müssten erst einmal vom Medium Internet entzogen werden.
Bevor das Mediennutzungsverhalten behandlungswürdig wird lässt sich aber auch präventiv gegensteuern. So empfiehlt Wölfling, Ruhephasen einzuhalten. Dieses „digital detox“ sollte nicht nur während der Schlafenszeit umgesetzt, sondern auch als bewusste Entscheidung in den Alltag integriert werden.
Smartphoneanwendungen, die der Nutzung sozialer Netzwerke vorgeschaltet werden, könnten dabei helfen. Sie erscheinen auf dem Bildschirm, wenn das soziale Netzwerk aufgerufen wird und sollen durch diese „Störung“ einer exzessiven Nutzung vorbeugen.
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