Vermischtes

Psychiater: Menschliche Gefühle nicht zu Krankheiten machen

  • Montag, 29. April 2013

München – Der amerikanische Psychiater Allen Frances sieht eine zunehmende Uminter­pretation „normaler menschlicher Gefühle“ zu psychischen Erkrankungen. Als Beleg führt der emeritierte Professor der Duke University im Magazin Focus den neuen Katalog „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ an. Dieser erkläre „die Liebe und den Verlust eines geliebten Menschen zu einem medizinischen Problem“. Dabei seien Traurigkeit, Schlafstörungen und der Verlust von Appetit völlig normale Anzeichen bei Trauer.

Das Handbuch erlaube es jedoch, bei diesen Anzeichen schon nach zwei Wochen eine schwere depressive Störung zu diagnostizieren, kritisierte der Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung. Er forderte deshalb mehr Sorgfalt im Umgang mit psychischen Leiden:

„Eine Diagnose ist wie eine Ehe – sie begleitet eine Person ein Leben lang, und sie kann einen verfolgen.“ Problematisch bewertet Frances auch den Einfluss der Arzneimittelhersteller: „Die Pharmaindustrie hat die Idee vorangetrieben, alltägliche Probleme seien psychische Krankheiten und die Folge eines chemischen Ungleichgewichts.“

Auch der der Rostocker Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Wolfgang Schneider betrachtet die seit den 1990er Jahren stetig steigenden Zahlen von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen mit großer Skepsis. „Es gibt eine große Bereitschaft von Menschen, sich als psychisch belastet anzusehen und sich deswegen krankschreiben zu lassen“, sagte Schneider in Berlin.

Sie folgten dem medialen Hype um das Burn-Out-Syndrom. „Die Schwelle, ab wann Symptome als Ausdruck einer psychischen Erkrankung bezeichnet werden, sinkt. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung wird zu schnell und zu häufig gestellt.“ Schneider ist Direktor der Rostocker Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin.

Soziale Probleme werden in medizinische umgewandelt
Dabei zeigen genaue Analysen, dass die Zahl von 33 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer, die innerhalb eines Jahres an einer „etablierten“ psychischen Erkrankung leiden, seit 20 bis 30 Jahren stabil ist. Es würden also soziale Probleme in medizinische umgewandelt.

Der Einzelne glaubt, nicht er selbst sei schuld an seinen Problemen, sondern die überfordernde Arbeitswelt oder zu hohes berufliches Engagement. „Dieses Phänomen ist auch bei den Renten zu beobachten“, sagte Schneider. So liege der Anteil von Frühverrentungen wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen bei 40 Prozent.

Es gebe viele Klagen, dass die Gesellschaft zu komplex geworden sei und alles krankmache. „Aber ein gewisses Maß an Müdigkeit, Erschöpfung, Demotivation oder Schlafstörungen bei beruflichen oder privaten Problemen gehört doch zum Normalbereich des menschlichen Erlebens - Schwarzmalen hat auch Negativeffekte. Es ist nicht ratsam, alles zu pathologisieren“, betonte Schneider. Seine Erfahrung sei, wer erst eine Diagnose hat und Medikamente bekommt, dessen Probleme werden erst richtig angeschoben.

Daran trügen Ärzte Mitschuld, in deren Systematik immer neue Diagnosen aufgenommen werden. „Wir schaffen neue Krankheiten“, sagte Schneider. Niedergeschlagenheit und Ängste gelten als „weichere Diagnosen“, die in der Arbeitswelt einen großen Raum einnehmen.

kna/dpa

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