Psychotherapie kann chronische Einsamkeit wirksam reduzieren

Berlin – Einsamkeit und ihre Relevanz für die Psychotherapie war das Thema des diesjährigen „Lunch-Talks“ der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPTV) in Berlin. „In Zeiten zunehmender digitaler Vernetzung, wächst das Gefühl sozialer Isolation. Wir wissen um die Konsequenzen, die Einsamkeit für die psychische und körperliche Gesundheit hat. Wir brauchen daher bundesweite Präventionsmaßnahmen gegen Einsamkeit – für Individuen und die Gesellschaft“, sagte Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der DPtV, gestern bei der Online-Veranstaltung.
Psychotherapie könne insbesondere in Fällen von chronischer Einsamkeit helfen, oder wenn sie mit psychischen Belastungen wie Suizidalität einhergehen, berichtete Mareike Ernst, Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Ernst beschrieb Einsamkeit als ein subjektives Gefühl, das aus einer Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlich erlebten sozialen Beziehungen entstehe. Sie betonte, dass Einsamkeit grundsätzlich nicht pathologisiert werden sollte, sondern als eine normale Reaktion auf Lebensereignisse verstanden.
Einsamkeit kann der Wissenschaftlerin zufolge auch bei psychisch gesunden Menschen auftreten. Das Gefühl könne chronisch werden, insbesondere wenn es mit negativen sozialen Erwartungen und Verhaltensweisen einhergehen. „Chronische Einsamkeit ist oft durch dysfunktionale soziale Kognitionen gekennzeichnet, die die Fähigkeit beeinträchtigen, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen“, sagte Ernst.
Die Psychotherapie könne chronische Einsamkeit wirksam reduzieren, insbesondere durch die Bearbeitung maladaptiver sozialer Denkmuster, Überzeugungen oder Wahrnehmungen, die in sozialen Kontexten ungesund oder dysfunktional seien und zu negativen Konsequenzen führen können. Studien zeigten, dass psychologische Interventionen, die eben darauf abzielten, besonders effektiv seien.
Die therapeutische Beziehung bezeichnete Ernst als ein „heilsames Element“, das Einsamkeit lindern könne, aber nicht allein. Die Psychotherapie biete wirksame Ansätze, um Einsamkeit zu bearbeiten, sollte jedoch die gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen nicht ausblenden. Denn eine ausschließliche Fokussierung auf die individuelle Ebene könnte zudem dazu führen, dass Einsamkeit als rein psychisches Problem wahrgenommen werde, wodurch soziale und politische Lösungen vernachlässigt werden könnten, mahnte Ernst.
Der Soziologe Janosch Schobin von der Georg-August-Universität Göttingen ging in seinem Vortrag der Frage nach, ob „moderne Gesellschaften immer einsamer werden, oder möglicherweise das Gegenteil der Fall ist“. Grundsätzlich sei Einsamkeit „ein vielschichtiges Phänomen“, das Menschen ganz unterschiedlich erlebten.
Zunächst lasse sich die Frage, ob die langanhaltende Einsamkeit in modernen Gegenwartsgesellschaften eher zu oder abgenommen hat, schon deshalb schwer zu beantworten, weil die Datenlage „extrem schlecht“ sei, sagte der im Kompetenznetzwerk Einsamkeit tätige Wissenschaftler.
Schobin stellte verschiedene Thesen vor, die für eine Zunahme von Einsamkeit sprechen. Die Alterungsthese argumentiere, dass ältere Gesellschaften mehr Einsamkeit erlebten, da hochbetagte Menschen häufiger betroffen seien. Veränderungen in familiären Strukturen und sozialen Netzwerken durch Individualisierung und sinkende Geburtenraten könnten ebenfalls Einsamkeit fördern. Beziehungen würden flüchtiger und weniger stabil, was zu längeren Einsamkeitsepisoden führe könne.
Die Arendt-These, nach der Politologin Hannah Arendt, betont Schobin zufolge die Zunahme kollektiver Einsamkeit durch politische und gesellschaftliche Entfremdung. Im Zuge der Erosion der liberalen Demokratie, so die Vermutung, fühlten sich die Menschen politisch immer häufiger heimatlos, und auch zunehmend isoliert und entwurzelt. Sie erlebten das gesellschaftliche Ganze gespalten und die soziale Welt unsicher. Globale Krisen wie Kriege und Flucht verstärken Einsamkeit zusätzlich.
Gegen diese Thesen stehen nach Ansicht des Soziologen Überlegungen, die auf einsamkeitsdämpfende Effekte hinweisen: Liberale Gesellschaften könnten durch Wohlstand, Gleichberechtigung und soziale Akzeptanz Bedingungen für hochwertige Beziehungen schaffen, die Einsamkeit reduzieren können.
Die Coronapandemie habe aber gezeigt, wie instabil Einsamkeitstrends sein können. Junge Menschen, die zuvor weniger betroffen waren, erlebten plötzlich hohe Einsamkeitsbelastungen durch die soziale Isolation bedingt durch die strengen Kontaktbeschränkungen und die Lockdowns während der Pandemie.
Die Unsicherheit und Ängste, die mit der Pandemie einhergingen, führten zu einer erhöhten psychischen Belastung, berichtete Schobin. Junge Menschen, die sich in einer Phase der Selbstfindung und Identitätsbildung befinden, seien besonders anfällig für die negativen Auswirkungen von Isolation und Stress gewesen. Die Einschränkungen und Unsicherheiten haben dem Wissenschaftler zufolge dazu geführt, dass sie sich zunehmend isoliert und einsam fühlten, da ihre sozialen Bedürfnisse nicht erfüllt werden konnten.
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