„Am Tag nach der Ausstrahlung haben uns 500 statt 100 Menschen kontaktiert“
Berlin – Das Post-COVID-Syndrom oder Long COVID ist in aller Munde. Da wundert es nicht, dass sich Eckart von Hirschhausen des Themas annimmt und in einer 45 Minuten dauernden Dokumentation, die am vergangenen Montag in der ARD ausgestrahlt wurde, genauer auf das Krankheitsbild eingeht.
Er spricht sowohl mit von einem schweren Verlauf Betroffenen als auch mit Ärztinnen und Ärzten und stellt Behandlungsmöglichkeiten vor. Immer wieder wird von der Apherese oder „Blutwäsche“ als effektiver Therapie gesprochen. Doch diese ist umstritten.
Tobias Welte, Direktor der Klinik für Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, hat nach eigener Aussage tausende Patienten mit COVID-19 und dem Post-COVID-Syndrom behandelt. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) spricht er über seine Erfahrungen und ordnet die Wirksamkeit solcher Verfahren wie der umstrittenen Apherese ein.

5 Fragen an Tobias Welte, Direktor der Klinik für Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover
Deutsches Ärzteblatt: Wie häufig sind schwere Post-COVID-Syndrome, wie sie in der Dokumentation vorgestellt werden?
Tobias Welte: Das lässt sich schwer sagen. Am häufigsten ist das ME/CFS (myalgische Enzephalitis/chronisches Fatiguesyndrom). Das gilt natürlich für die wirklich schwer beeinträchtigten Menschen.
Bezogen auf die Gesamtzahl der Menschen, die glauben an einem Post-COVID-Syndrom (PCS) erkrankt zu sein, ist das eine kleine Gruppe. Dabei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das wir seit Jahrzehnten kennen und für das es eindeutige Diagnosekriterien gibt.
Darüber hinaus mangelt es derzeit an populationsbezogenen Untersuchungen zur Häufigkeit des Post-COVID-Syndroms (PCS) hierzulande. In unserer Ambulanz in Hannover melden sich etwa 100 Menschen täglich.
Davon leiden ungefähr 20 an akutem COVID-19, meinen aber trotzdem, dass sie ein PCS haben. Aber es ist völlig normal, sich erschöpft zu fühlen, wenn eine Infektionskrankheit besteht. Es kann dauern, bis man wieder voll leistungsfähig ist. Die Betroffenen sollten sich daher die Zeit nehmen, die sie brauchen, um wieder fit zu sein.
Zudem muss zwischen Long COVID und PCS unterschieden werden. Long COVID und PCS bedeuten, dass vier Wochen beziehungsweise drei Monate nach der virologischen Heilung noch Symptome bestehen In diesem Zeitraum, zwischen der vierten Woche und dem dritten Monat verlieren drei Viertel der Betroffenen ihre Symptomatik.
Mittlerweile gibt es relativ große internationale Studien, zum Beispiel aus England oder Holland, in denen neben PCS-Betroffenen auch Kontrollpersonen eingeschlossen waren. Interessant ist es zu sehen, dass ein erheblicher Prozentsatz der Kontrollpersonen, die gar kein COVID-19 gehabt haben, unter denselben Beschwerden leiden wie die Betroffenen.
Das ist ein großes Problem, vor dem wir stehen: Wir wollen den wirklich Kranken helfen, von denen es aber gar nicht so viele gibt, wie es oft dargestellt wird. Am Tag nach der Ausstrahlung der Dokumentation von Eckart von Hirschhausen haben uns 500 statt 100 Menschen kontaktiert. Viele von ihnen wünschen eine Apheresebehandlung, wie sie in der Dokumentation vorgestellt wird.
DÄ: Welche Symptome beziehungsweise Beschwerden stehen beim PCS im Vordergrund?
Welte: Mögliche Symptome sind Belastungseinschränkungen, Konzentrationsstörungen oder Riech- und Geschmacksstörungen. Vermutlich leiden die meisten an einem neurokognitiven Defizit. Wie bereits erwähnt, besteht häufig ein ME/CFS. Die Ursachen von ME/CFS sind nicht vollständig bekannt.
Es existieren verschiedene Theorien, sie reichen von Autoantikörperbildung, einem Ungleichgewicht des Immunsystems über eine endotheliale Dysfunktion bis hin zu einer Mitochondriopathie. Vermutlich handelt es sich nicht um ein homogenes Krankheitsbild, sondern um verschiedene Varianten. Eine kausale Therapie gibt es nicht.
DÄ: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es derzeit?
Welte: Wichtig ist es, mit den Betroffenen zu reden, sie darauf hinzuweisen, dass es völlig normal ist, sich nach COVID-19 wie auch nach anderen Infektionen zum Beispiel der Grippe matt zu fühlen. Es dauert, bis die volle Leistungsfähigkeit wiederhergestellt ist. Solche Gespräche können eine Stunde dauern. Aber die Zeitinvestition lohnt sich, denn bei etwa der Hälfte der Betroffenen reicht dieses Gespräch aus.
Bei persistierenden Beschwerden gilt es, andere Organerkrankungen auszuschließen. Hinter den Beschwerden können sich schwerwiegende Erkrankungen verbergen, die eine spezifische Therapie verlangen. So hat sich in unserer Ambulanz ein Patient vorgestellt, der letztlich eine akute Leukämie hatte. Das ist ein großes Risiko, wenn dem PCS eine zu große Bedeutung beigemessen wird.
Darüber hinaus richten wir uns bei der Therapie nach den vorherrschenden Symptomen. Stehen die Belastungsstörungen im Vordergrund, raten wir zu einer App-gesteuerten, balancierten Belastungstherapie über einen Monat. Sind die neurokognitiven Störungen führend, ist eine Therapie sicherlich schwieriger. Es kann helfen, den Medienkonsum einzuschränken, also nicht 14 Stunden vor dem Computer zu sitzen. Insgesamt muss dann der Lebensstil angepasst werden.
Meiner Meinung nach stellt das PCS einen Ausdruck der Überforderung der Menschen in unserer Gesellschaft dar: Es gilt, im Beruf sowie in der Familie alles zu geben und auch sich selbst zu entfalten. Die Menschen sind sowieso immer an der Kante, bis dann irgendetwas passiert, was stört und das System destabilisiert.
DÄ: Wie schätzen Sie Verfahren wie die Apherese oder die Immunadsorption ein?
Welte: Immunadsorption wird bei anderen Autoimmunerkrankungen sehr gezielt basierend auf guten Daten eingesetzt. Das fehlt beim PCS. Warum eine Lipidapherese, wie sie in der Dokumentation vorgestellt wird, helfen soll, lässt sich nicht einmal theoretisch vorstellen.
Sie kann Mikrogerinnsel entfernen, aber das wäre ja eher eine Therapie der akuten COVID-Infektion und nicht des PCS. Und man sollte den Placbeoeffekt nicht unterschätzen: Wenn ich 5.000, 8.000, 10.000 Euro aus eigener Tasche für eine Therapie bezahlt habe, dann hilft diese auch.
Wichtig ist, dass wir PCS Behandlungen wie Immunapherese oder Antikörpergabe im Rahmen von Studien durchführen. Denn bei diesem Krankheitsbild ist die Placeboheilungsrate enorm hoch, sie liegt sicherlich bei > 50 %.
DÄ: Welche Forschungs-/Studienschwerpunkte sollten gesetzt werden, um Diagnostik und Therapie verbessern zu können?
Welte: Der Bund hat für die Erforschung von ME/CFS zehn Millionen Euro bereitgestellt. Das ist keine sehr große Summe. Aber wir können jetzt kontrollierte Studien durchführen, um überhaupt erste kontrollierte Ergebnisse zu erhalten.
Dabei besteht die größte Schwierigkeit in der Kontrollgruppe. So hat das Aphereseverfahren ja schon einen Placeboeffekt, völlig egal, ob die Apherese überhaupt stattfindet. Es braucht quasi eine nicht wirksame Dialyse als Kontrollgruppe. Bei einer Antikörpertherapie ist das natürlich einfacher. Insgesamt sind seriöse Forschungsprogramme notwendig.
Weiterhin kommt noch ein anderes Problem unseres Gesundheitssystems zum Tragen: „Sprechende Medizin“ wird nicht bezahlt. Dabei ist es so wichtig, mit den Betroffenen zu reden. In unserer Ambulanz, die mit Spendengeldern finanziert wird, nehmen wir uns bis zu einer Stunde Zeit. Dies allein reicht bei der Mehrzahl der Betroffenen schon aus. Statt Geld in nicht wirksame technische Leistungen zu stecken, bei PCS etwa in die Apherese, sollte das Gespräch zwischen Patient und Arzt gefördert werden.
Außerdem würde ich mir von den Medien wünschen, sich etwas zurückzunehmen. Teilweise ist es nicht nur nicht richtig, was sie berichten, sondern sie können auch großen Schaden anrichten. Gerade von Herrn Hirschhausen hätte man erwartet, dass er es ein bisschen besser weiß.
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