„Es gibt Studien, die Fragen beantworten, die niemanden interessieren“
Berlin – Mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) wurde im Jahr 2011 ein Verfahren der frühzeitigen Nutzenbewertung eingeführt, das den Preis eines neuen Arzneimittels von seinem Zusatznutzen abhängig macht. Nach einigen Anpassungsschwierigkeiten haben sich mittlerweile die Arzneimittelhersteller weitgehend mit dem AMNOG und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das die Nutzenbewertung im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses durchführt, arrangiert.

Fünf Fragen an Jürgen Windeler, den Leiter des IQWiG, zu aktuellen Entwicklungen bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln
DÄ: Einige Fachgesellschaften kritisieren, dass Arzneimittel-Innovationen oft nur aus formalen Gründen beim IQWiG scheitern. Das Institut sei daran schuld, dass diese nicht zum Patienten kommen. Zudem sehen sie sich bei dem Entscheidungsprozess außen vor. Was antworten Sie darauf?
Windeler: Ich möchte zunächst hervorheben, dass nach der Zulassung der pharmazeutische Unternehmer die Entscheidungshoheit darüber hat, ob Arzneimittel zum Patienten kommen, also in Deutschland verordnungsfähig werden oder bleiben. Weder das IQWiG noch der G‑BA haben im Rahmen des AMNOG irgendeine Möglichkeit, darauf einzuwirken. Fachgesellschaften sind am AMNOG-Verfahren intensiv beteiligt. Deshalb gibt es für sie keinen Grund, sich zu beklagen. Einige Fachgesellschaften beteiligen sich sehr aktiv und sehr konstruktiv.
Zu den angeblich „formalen“ Gründen: Wir schauen in das Dossier, das die Hersteller vorlegen müssen, und bewerten es. Wenn das Dossier überzeugende Daten dafür liefert, dass das Arzneimittel die Versorgung verbessert, vergeben wir eine Empfehlung für einen Zusatznutzen. Wenn wir aber sehen, dass es keine überzeugenden Daten gibt, entweder, weil es gar keine Studien gibt oder die vorgelegten Studien nicht geeignet sind, geht die Empfehlung in die andere Richtung.
So gibt es beispielsweise Studien, die Fragen beantworten, die niemanden interessieren. Eine solche Situation haben wir bei den Gliptinen erlebt. Hier schien aus den Studien hervorzugehen, dass es mit einer Gliptin-Therapie zu weniger Hypoglykämien kommt als mit einer konventionellen Therapie, was man als einen Vorteil hätte ansehen können. Die vorgelegten Studien waren so angelegt, dass sie gar nicht anders ausgehen konnten, weil die Vergleichstherapien systematisch benachteiligt wurden. In anderen Studien sind Vergleichs-Therapieregime genutzt worden, die heute kein Arzt und keine Ärztin ihren Patienten verschreiben würde.
DÄ: Warum gibt es bei Arzneimitteln nach deren Zulassung kaum valide Studien, die den Langzeitnutzen evaluieren?
Windeler: Die Industrie betreibt tatsächlich nur einen minimalen Aufwand für Phase-4-Studien. Es gibt natürlich ein Monitoring von Nebenwirkungen; unter Umständen werden auch Auflagen der Behörden für ergänzende Sicherheitsstudien umgesetzt. Wir haben aber einen beklagenswerten Mangel an Head-to-Head-Studien, die also Arzneimittel untereinander vergleichen. Die Hersteller haben kein Interesse an solchen Studien, und es ist auch kein anderer da, der diese finanzieren würde. Es gibt auch keine Instanz, die sie einfordert. Einfordern hieße: Entweder die Industrie liefert die Studien oder das Präparat kann nicht mehr verordnet werden.
DÄ: Wie sehen Sie das Problem der Orphanisierung bei der Nutzenbewertung onkologischer Wirkstoffe? Denn bei Orphan Drugs gilt der Zusatznutzen ja als belegt.
Windeler: Die Sonderregelung für Orphans ist nicht sachgerecht. Das haben auch aktuelle Beschlüsse des G‑BA eindrücklich gezeigt. Eine Orphanisierung in der Weise, dass Indikationen in viele kleine Scheibchen zerteilt werden, wie wir das vor fünf Jahren befürchtet haben, ist allerdings bisher nicht eingetreten.
DÄ: Was ist denn mittlerweile aus der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln geworden? Ist dort noch etwas zu erwarten?
Windeler: Begrenzte Hoffnung gibt es noch. Gegenwärtig ist es aber so, dass keiner etwas davon wissen will. Das liegt offenbar ganz banal daran, dass wir in Deutschland noch genug Geld haben. Kollegen ausländischer HTA-Institutionen berichten gelegentlich von den Problemen ihrer Gesundheitssysteme. Wenn man im kommenden Jahr zehn Prozent einsparen muss, kommt man ganz schnell auf die Idee, nachdrücklicher nach den Kosten zu fragen.
Mit Blick auf die Kosten neuer Arzneimittel – aktuelles Beispiel Sofosbuvir von Gilead – sollten wir uns aber auch vor den mitunter skurrilen Diskussionen hüten, die hier geführt werden. Wenn diese Hepatitis-C-Medikamente tatsächlich das bringen, was sie versprechen – wofür manches spricht -, dann kriegen wir einen hohen Gegenwert für das, was wir aufwenden. Die Diskussionen um Sofosbuvir sind ein wunderbares Beispiel dafür, dass wir unbedingt auf der Basis von Wert und Gegenwert diskutieren sollten. Es ist ja durchaus vorstellbar, dass wir durch ein sehr gutes Medikament, mag es noch so teuer sein, deutlich mehr an sonst entstehenden Folgekosten einsparen. Nur zu sagen: Das ist aber teuer, erscheint mir sehr oberflächlich. Wir sollten die Diskussionen etwas anders und tiefgründiger führen, als wir das bisher getan haben.
Es kann natürlich bei einer Bewertung auch herauskommen: Das ist schlecht investiertes Geld, dafür bekommen wir nichts Relevantes zurück. Dazu sind wir aber aktuell nicht in der Lage, weil die Möglichkeiten der Kosten-Nutzen-Bewertung, die das Gesetz ja bietet, nicht genutzt werden Allerdings egibt es bei der Kosten-Nutzen-Bewertung auch Probleme. Denn ihre Ergebnisse haben einen sehr viel größeren Interpretationsspielraum, sind also viel unsicherer, als manche Akteure im Gesundheitswesen es erwarten oder sich wünschen. Aber das Potenzial, das diese Methode bietet, ist durchaus vielversprechend und es lohnt, sie einzusetzen.
DÄ: Noch einmal zurück zur Nutzenbewertung durch das IQWiG. Kaum transparent ist ja, wie sich diese und der spätere Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses auf die Preisgestaltung auswirkt.
Windeler: Die Industrie will die Ergebnisse ja geheim halten und dann blühen naturgemäß die Spekulationen. Eigentlich sollten die Dinge offen gelegt werden. Wenn ich dann den Nutzen mit der Kosteneinsparung vergleiche, stellt sich die Frage, was genau ich betrachte: den Endpreis oder den Abschlag, prozentual oder absolut? Betrachte ich die Differenz zwischen Vergleichstherapie und neuer Therapie? Wie häufig ist eine Erkrankung? Es gibt da sinnvolle und sinnlose Alternativen.
Mit den richtigen Maßen gibt es durchaus Zusammenhänge, aber generell gilt: Die Rabatte sind Verhandlungsergebnisse. Da kann man nicht erwarten, dass es enge Korrelationen zwischen dem Ergebnis der frühen Nutzenbewertung und dem Ausgang der Rabattverhandlungen gibt. Sonst bräuchte man keine Verhandlungen, sondern man würde das einfach festlegen.
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