Bericht: Brexitpläne beeinträchtigten Pandemievorbereitungen in Großbritannien

London – Vorbereitungen für einen EU-Austritt Großbritanniens ohne ein Abkommen haben dazu beigetragen, dass die damalige Regierung in London die Vorbereitungen auf die Coronapandemie vernachlässigt hat: Zu diesem Schluss kommt ein kürzlich veröffentlichter Bericht in Großbritannien zur Aufarbeitung des staatlichen Umgangs mit der Pandemie.
Die Briten seien aufgrund unzureichender Pandemievorbereitungen „im Stich gelassen“ worden, hieß es in dem 217 Seiten umfassenden Dokument. In den Jahren vor der Pandemie habe es an „angemessener Führung, Koordination und Aufsicht“ gefehlt.
Britische Minister und Beamte hätten sich zu sehr auf einen Grippeausbruch konzentriert und damit „auf die falsche Pandemie“ vorbereitet, hieß es in dem ersten Bericht des öffentlichen Untersuchungskomitees unter dem Vorsitz der Richterin Heather Hallett.
Zudem seien die für die Notfallplanung zuständigen Gremien „in ihrer Komplexität labyrinthisch“. Die Beratung der Regierung werde oft „durch ‚Gruppendenken‘ untergraben“. Auch werde den Beratern nicht genügend Freiheit eingeräumt, „abweichende Ansichten zu äußern“.
Darüber hinaus seien eine Reihe von Arbeitsabläufen zur Vorbereitung auf eine Pandemie „auch aufgrund der Umverteilung von Ressourcen für die Operation Yellowhammer unterbrochen“ worden, hieß es unter Berufung auf Zeugenaussagen.
„Operation Yellowhammer“ bezeichnet den Notfallplan der damaligen Regierung des konservativen Premierministers Boris Johnson, um sich auf einen No-Deal-Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ohne Abkommen, vorzubereiten.
Die Anhörungen zur Untersuchung fanden im Juni und Juli 2023 in London statt. Zu den befragten Zeugen gehörten Politiker wie Johnson und der ehemalige Gesundheitsminister Matt Hancock sowie Wissenschaftler, Beamte und Angehörige von COVID-19-Toten.
„Fehler“ wie damals dürfe es nicht noch einmal geben, warnte Richterin Hallett. Denn eine weitere Pandemie sei eine Frage des „Wann“ und nicht des „Ob“. Wenn das Vereinigte Königreich nicht besser vorbereitet sei, werde eine neue Pandemie „immenses Leid und enorme finanzielle Kosten“ mit sich bringen.
Zu den zehn wichtigsten Empfehlungen des Berichts gehören daher unter anderem eine „radikale Vereinfachung“ der zivilen Notfallvorsorge, mindestens alle drei Jahre eine landesweite Pandemienotfallschulung und die Schaffung einer einzigen Stelle zur Überwachung des gesamten Systems. Die Empfehlungen sind rechtlich nicht bindend.
Durch die vom Coronavirus ausgelöste Krankheit COVID-19 starben in Großbritannien mehr als 232.000 Menschen. Das Land gehörte damit im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu den am härtesten betroffenen Staaten weltweit. Alleine bis Mitte Juli 2021 waren in Großbritannien 130.000 Menschen an COVID-19 gestorben.
Die Kritik an der damaligen Regierung reichte von der erheblich verspäteten Einschätzung der Bedrohungslage am Anfang der Pandemie bis hin zum Mangel an ausreichender Schutzausrüstung für das medizinische Personal.
Öffentliche Untersuchungen im Vereinigten Königreich wie die zur Coronapandemie werden von der Regierung finanziert, haben aber einen unabhängigen Vorsitz. Sie untersuchen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse und verfolgen den Auftrag, Fakten zu ermitteln, die Gründe für das Geschehene festzustellen und Lehren daraus zu ziehen. In weiteren Berichten will das Untersuchungskomitee unter anderem der Frage nachgehen, wie das britische Gesundheitswesen mit der Coronapandemie umgegangen ist.
Der frühere britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt bedauerte die schlechte Vorbereitung der Regierung in London auf die Coronapandemie. „Ich entschuldige mich vorbehaltlos bei den Angehörigen“, sagte der konservative Politiker in einem BBC-Interview.
Hunt, der von 2012 bis 2018 Gesundheitsminister war und zuletzt das Finanzministerium leitete, gestand ein, dass sich die Regierung zu stark auf die Gefahr einer Grippepandemie konzentriert und andere Arten von Pandemien nicht ausreichend beachtet hatte.
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