Gesundheitsgefahren durch neue Chemikalien schneller erkennen

Leipzig – Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) spricht sich für eine Modernisierung der europäischen Risikobewertungsverfahren für Chemikalien aus, um das Gefahrenpotenzial neuer Chemikalien schneller erkennen zu können.
„Die weltweite Produktion von Chemikalien wird sich bis 2050 voraussichtlich verdreifachen“, schreibt das UFZ in einem Policy Brief. Mit der steigenden Produktionsmenge wachse auch die Komplexität der Stoffe und Gemische. Sie kämen in immer größerer Anzahl in Produkten wie Spielzeug oder Lebensmittelverpackungen vor, mit denen man täglich in Kontakt komme.
Über Abfälle und Abwässer aus Haushalten und Industrie gelangten sie darüber hinaus in Boden, Wasser, Sediment und Luft. Einmal im Umlauf, könnten sie die biologische Vielfalt verringern. Einige Stoffe (zum Beispiel Bisphenol A oder perfluorierte Verbindungen) würden zunehmend mit Krebs, Herz-, Atemwegs- und neurologischen Krankheiten in Verbindung gebracht.
Derzeit werden Chemikalien anhand der europäischen REACH-Verordnung bewertet. REACH steht für „Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals“. Die Verordnung ist seit 2007 in Kraft. Sie soll ebenso den freien Verkehr von Chemikalien innerhalb der EU regeln als auch die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Chemikalien schützen.
Das UFZ kritisiert, dass mit den derzeit genutzten Mitteln die Masse neuer Chemikalien nicht rechtzeitig untersucht werden könne. „Im ‚chemischen Universum‘ der bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) registrierten Substanzen waren im Juni 2023 von insgesamt 7.358 Substanzen 4.713 (64 Prozent) noch nicht zugeordnet“, schreibt das UFZ. „Für 626 Substanzen (neun Prozent) waren zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Maßnahmen wie die Bewertung des Regulierungsbedarfs, die Datenerhebung oder das Risikomanagement vorgesehen.“
„Im Jahr 2023 führte die ECHA außerdem 301 Prüfungen zur Erfüllung der Anforderungen von REACH-Registrierungsdossiers durch“, so das UFZ weiter. Diese beträfen 274 einzelne Stoffe und etwa 1.750 Registrierungen. Infolgedessen seien 251 Entscheidungen an Unternehmen versandt worden, in denen zusätzliche Daten angefordert worden seien.
„Diese Beispiele zeigen, dass die europäischen Bewertungs- und Managementprozesse für Chemikalien trotz Anpassungen nur einen Bruchteil der registrierten Stoffe abzudecken vermögen. Entsprechend identifizieren viele Forschende erhebliche Lücken in diesen Prozessen, insbesondere in Anbetracht der wachsenden Zahl sowie der strukturellen Vielfalt der in Verkehr gebrachten Stoffe“, so UFZ.
Heutige Methoden sind veraltet
Die Innovation neuer Substanzen und Gemische schreite kontinuierlich voran, hieß es weiter. Damit gehe einher, dass die bisher genutzten Methoden zur Chemikalienbewertung den aktuellen regulatorischen Anforderungen der Chemikalienverordnung REACH nicht mehr vollständig gerecht würden.
Vor diesem Hintergrund hat das UFZ eine Modernisierung des aktuellen Systems in Workshops mit den beteiligten Akteuren im Rahmen des Projekts „Modernizing Hazard Indicators“ diskutiert. „Alle Interessengruppen haben bekräftigt, dass die bestehenden Risikobewertungsverfahren in der EU zu langsam und umständlich sind, den regulatorischen Anforderungen nicht gerecht werden und teilweise einer Überarbeitung bedürfen“, so ein Fazit.
Um die Bewertung unter Berücksichtigung hoher Qualitätsstandards zu beschleunigen, habe sich als Lösungsansatz der vermehrte Einsatz sogenannter neuer methodischer Ansätze (New Approach Methodologies, NAMs) herauskristallisiert.
Dabei müssten zum Beispiel die Tierversuche überwunden werden, die heute noch als Goldstandards gelten. „Als Kritik an Tierversuchen wurden deren lange Dauer, Ressourcenintensität und die umstrittene Übertragbarkeit / Varianz der Ergebnisse aufgrund von Artenunterschieden sowie ethische Aspekte erwähnt“, fasst das UFZ zusammen.
Zudem verfügten EU-Agenturen wie die europäische Chemikalienagentur ECHA über unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen, um mit der Innovationsgeschwindigkeit neuer Substanzen und Gemische Schritt halten zu können.
Die Teilnehmenden nannten verschiedene Vorteilen, die NAMs gegenüber gegenwärtigen Methoden bieten können, zum Beispiel die Verbesserung der Gefahren- und Risikobewertung von Chemikalien in der EU anhand schnellerer Screeningmethoden.
Dabei müssten NAMs die Fragen beantworten, ob eine Chemikalie oder ein Chemikaliengemisch toxisch ist und wie sich die Toxizität der Substanz(en) durch Abbau in der Umwelt verändert. „Insgesamt hoben alle Stakeholder die große Bedeutung einer schnelleren Identifikation von gefährlichen Substanzen und Mischungen hervor“, so das UFZ.
Die europäische Chemikalienbewertung besteht heute aus mehreren Komponenten. „Die Gefahrenbewertung dient der Einstufung und Kennzeichnung aller auf dem Markt befindlichen Chemikalien“, schreibt das UFZ. „Neben der Identifizierung möglicher Toxizität werden seit 2023 auch die Einstufung nach endokriner Wirkung, PBT (Persistenz, Bioakkumulation und Toxizität) und PMT (Persistenz, Mobilität und Toxizität) gefordert.“
Im Rahmen der REACH-Verordnung erfolge eine Ermittlung des Risikos für schädliche Wirkungen auf die Gesundheit des Menschen und auf die Umwelt. „Mit steigenden Mengen steigen hierbei die Informationsanforderungen“, beschreibt das UFZ.
„Ab einer Menge von zehn Tonnen pro Jahr ist auch eine PBT-Bewertung sowie eine Risikocharakterisierung für Gefahrenstoffe vorgesehen. Nur für als problematisch identifizierte Stoffe oder solche mit hohen Produktionsvolumina ist eine vollständige Bewertung der Exposition, Toxizität und Risikocharakterisierung vorgesehen.“
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: