Impfstoffstreit: Warum die EU die Argumente des Astrazeneca-Chefs nicht gelten lässt

Brüssel – Im Vorfeld der für morgen erwarteten Zulassung des COVID19-Impfstoffs des britisch-schwedischen Pharmaunternehmens Astrazeneca, verschärft sich der Streit zwischen dem Hersteller und der EU-Kommission weiter. Am Freitag will die EU ihren Mitgliedern die Möglichkeit einräumen, Exporte des Impfstoffs notfalls zu blockieren, sollten diese zu Lasten der in der EU georderten Mengen gehen.
Bereits am Mittwoch, wo bereits das dritte Krisengespräch mit dem Hersteller stattfinden sollte, wirkte die Situation festgefahren. Nach Angaben aus Kommissionskreisen sagte Astrazeneca den termin zunächst ab, dementierte die Absage aber schon kurz darauf. Beide Seiten bezeichneten die darauf folgenden Beratungen am Mittwochabend zwar als „konstruktiv“.
Aber: „Wir bedauern, dass es immer noch keine Klarheit über den Lieferplan gibt und erbitten uns von Astrazeneca einen klaren Plan zur schnellen Lieferung der Impfstoffe, die wir für das erste Quartal reserviert haben“, erklärte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nach dem Krisentreffen mit auf Twitter.
Liefermengen weiterhin unklar
Nach wie vor ist unklar, in welchem zeitlichen Rahmen Astrazeneca die der EU vertraglich zugesicherte Menge an Impfdosen liefern kann. Insgesamt gibt es Vereinbarungen über 400 Millionen Impfdosen, nach EU-Angaben sollten 80 Millionen davon nach einer Zulassung bereits im ersten Quartal zur Verfügung stehen.
Am vergangenen Freitag hatte der Hersteller erstmals verkündet, der EU nur weit weniger liefern zu können. In Kommissionskreisen war zunächst von 31 Millionen Dosen die Rede, im weiteren Verlauf der Diskussion noch deutlich weniger.
Seit Tagen setzen die EU-Kommission und die 27 EU-Staaten das Unternehmen deshalb unter Druck. Damit das Mittel schon bei Zulassung geliefert werden kann, wurden der Firma 336 Millionen Euro zur Aufstockung der Produktion zugesagt. Nach EU-Lesart hätte sie auf Halde produzieren müssen.
Problem soll sich in zwei bis drei Monaten lösen
Astrazeneca-Chef Soriot hatte sich gestern unter anderem in einem Interview mit der Zeitung Die Welt geäußert – allerdings nicht zur Zufriedenheit der EU. Einige von Soriots Argumenten: Die EU habe ihren Vertrag später abgeschlossen als Großbritannien, wo das Astrazeneca-Mittel bereits genutzt wird.
In der EU werde der Impfstoff in Belgien und den Niederlanden produziert. Und ausgerechnet dort sei in einer Anlage der Ertrag sehr niedrig. „Das machen wir ja nicht mit Absicht!“ Sein Team arbeite rund um die Uhr, um die Probleme zu lösen.
Zudem sagte Soriot, sein Unternehmen sei vertraglich nicht zur Lieferung bestimmter Mengen verpflichtet. Vielmehr habe man nur einen „Best Effort“ zugesagt, sich also im besten Sinne zu bemühen. In zwei bis drei Monaten sei das Problem zu lösen, sagte der Manager voraus.
Und zu den konkreten Mengen: „Sobald wir in den nächsten Tagen die Zulassung erhalten, liefern wir drei Millionen Dosen. Dann jede Woche mehr, bis wir bei 17 Millionen sind. Die werden nach Bevölkerungszahl verteilt, für Deutschland mithin ungefähr drei Millionen in einem Monat.“ Das sei „gar nicht so schlecht“. Insgesamt werde die EU fair behandelt.
„Best Effort“-Klausel falsch ausgelegt
Das alles wiederum empörte die EU-Seite. Es gebe einen Vertrag mit festen Lieferplänen je Quartal, und „Best Effort“ heiße nicht, dass keine Verpflichtung bestehe, hielt Gesundheitskommissarin Kyriakides entgegen. Im Vertrag sind nach EU-Angaben konkret vier Fabriken genannt, zwei davon in Großbritannien. Auch diese müssten für den EU-Auftrag eingesetzt werden, ergo soll Impfstoff von Großbritannien auf den Kontinent.
„Eine „Best-Effort“-Klausel gibt es im Vertrag, weil der Impfstoff bei Vertragsabschluss noch nicht entwickelt oder zugelassen war. Deshalb heißt es ja auch Advance Purchase Agreement“, hieß es aus Kommissionskreisen. „Best Effort“ beziehe sich auf einen Erfolg der Impfstoffentwicklung und -zulassung.
„Wenn die Zulassung erfolgt, dann sind die vereinbarten, auch die vorproduzierten Mengen zu liefern. Wir haben die Firma aufgrund ihrer Produktionskapazität ausgewählt. Sie sollte also in der Lage sein, rechtzeitig zu produzieren“, so die Kommission weiter.
Großbritannien dürfte keinen Vorrang haben
Dass die EU ihren Vertrag später abgeschlossen habe, spiele ebenfalls keine Rolle. „Wir weisen die Logik des ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst’ zurück“, sagte Kyriakides. „Das gilt vielleicht beim Metzger um die Ecke, aber nicht bei Verträgen.“
Astrazeneca hätte in diesem Fall eine Klausel im Vertrag vorschlagen müssen, die besagt, dass sie Lieferungen ins Vereinigte Königreich vorrangig behandeln würden, hieß es dazu aus Kommissionskreisen. „Es gibt keine solche Klausel im Vertrag.“
Um die Vereinbarung transparent zu machen, will die Kommission den Vertrag mit dem Hersteller in redigierter Form veröffentlichen. Dem habe das Unternehmen grundsätzlich zugestimmt, bestätigten Kommissionskreise am Donnerstag. Es werde nun besprochen, welche Teile aus Gründen der Vertraulichkeit geschwärzt würden.
Bestimmte Klauseln habe Astrazeneca trotz einer Vertraulichkeitsklausel bereits offengelegt, heißt es aus Kommissionskreisen. Den gesamten Vertrag nun zu veröffentlichen werde allen ermöglichen, sich ein Bild der tatsächlichen Situation zu machen.
Sollte Astrazeneca damit beginnen, Impfstofflieferungen aus den britischen Werken in die EU umzuleiten, könnte dies wiederum das Versprechen des britischen Premierministers Boris Johnson gefährden, bis Mitte Februar 15 Millionen Briten impfen zu lassen. Astrazeneca habe sich zu zwei Millionen Dosen pro Woche in Großbritannien verpflichtet, sagte ein Regierungssprecher in London. „Und wir erwarten, dass Verträge eingehalten werden.“
Auch Johnson selbst will sich auf diese Debatte nicht einlassen. Es handle sich um eine Angelegenheit zwischen der EU und Astrazeneca, sagte Johnson am Mittwochabend in London und fügte hinzu: „Wir sind sehr zuversichtlich, was unseren Nachschub und unsere Verträge betrifft.“
Die EU selbst kündigte heute wiederum an, den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit zu geben, Exporte des Astrazeneca-IMpfstoffs notfalls zu blockieren. Die EU-Kommission werde dazu voraussichtlich am Freitag einen Vorschlag vorstellen, sagten EU-Vertreter am Donnerstag. Hauptziel ist es demnach, Informationen über Ausfuhren zu sammeln und sicherzustellen, dass diese nicht zu Lasten von in der EU bestellten Lieferungen gingen.
Zeitlich begrenzte „Notfallmaßnahme“
„Es ist kein Exportverbot“, sagte ein EU-Vertreter zu dem geplanten „Transparenz- und Lizenzierungsmechanismus“. „Die Grundannahme ist, dass die Ausfuhren wie vorgesehen stattfinden werden.“ In „seltenen Fällen“ könne es aber dazu kommen, dass die Exporterlaubnis verweigert werde. Dafür soll es in der EU-Rechtsgrundlage Kriterien geben, zu denen am Donnerstag aber noch keine genauen Angaben gemacht wurden.
In der Praxis müssten die Hersteller den für sie zuständigen nationalen Behörden mitteilten, „was, wann, zu wem und in welchem Umfang“ sie exportieren wollten, sagte ein EU-Vertreter. Die nationalen Stellen könnten dann die Ausfuhren freigeben oder verweigern. Die Entscheidung darüber solle in weniger als 24 Stunden erfolgen.
Die EU-Vertreter sprachen von einer „Notfallmaßnahme“, die zeitlich begrenzt bis zum Ende des ersten Quartals gelten solle. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass sie verlängert werde. Impfstoff-Exporte innerhalb der EU seien ebenso wenig betroffen wie "humanitäre" Hilfslieferungen an Ziele außerhalb.
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