OECD-Studie: Länder müssen mehr in Prävention investieren

Berlin – Die Gesundheitssysteme der meisten Staaten müssen resilienter werden und sich künftig besser gegen Krisensituationen wappnen. Zu diesem Ergebnis kommt die OECD-Studie Health at a Glance 2021, die heute virtuell vorgestellt wurde. In ihr vergleicht die OECD den Gesundheitsstatus der Bevölkerung und die Qualität der Gesundheitssysteme in den 38 OECD-Ländern sowie Partnerländern.
Der Fokus der aktuellen Studie liegt auf den direkten und indirekten Folgen der Coronakrise. „Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, in den kommenden Jahren mehr zu investieren, um sowohl die Primärversorgung als auch die Krankheitsprävention zu verbessern“, sagte heute OECD-Gesundheitsexperte Michael Müller.
Weltweit seien 250 Millionen Coronainfektionen und fünf Millionen Todesfälle durch das Coronavirus registriert worden, berichtete Müller. Weniger als die Hälfte davon entfalle auf die OECD-Staaten. Konkret habe die Pandemie im OECD-Raum direkt und indirekt zu einem Anstieg der erwarteten Zahl der Todesfälle um 16 Prozent in 2020 und im ersten Halbjahr 2021 beigetragen.
„Die Lebenserwartung sank in 24 von 30 Ländern, für die vergleichbare Daten vorliegen“, so der Experte. Am deutlichsten sei sie in den USA (- 1,6 Jahre) und Spanien (‑ 1,5 Jahre) zurückgegangen. Einen Rückgang habe es aber auch in Deutschland (- 0,3 Jahre), in Österreich (- 0,7 Jahre) und der Schweiz (- 0,8 Jahre) gegeben.
Erhöht haben sich durch die Pandemie die Gesundheitsausgaben im OECD-Raum: Während die Wirtschaftstätigkeit einbrach, stiegen die Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum BIP im Schnitt der OECD-Länder von 8,8 Prozent in 2019 auf 9,7 Prozent in 2020, in Deutschland von 11,7 auf 12,5 Prozent.
„Die Studie zeigt aber auch, dass der Großteil der Gesundheitsausgaben nach wie vor auf die kurative Versorgung und nicht auf Krankheitsprävention oder Gesundheitsförderung entfällt und dass für den Krankenhaussektor wesentlich mehr Mittel bereitgestellt werden als für die Primärversorgung“, erläuterte Müller. Diese müsse künftig – ebenso wie der Öffentliche Gesundheitsdienst – gestärkt werden.
Mehr Investitionen auf dem Gebiet der Prävention in Deutschland forderte auch Stefan Willich, Epidemiologe und Sozialmediziner an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Momentan spiele die Prävention in Deutschland eine völlig untergeordnete Rolle, bedauerte er anlässlich der Vorstellung der Studie.
Lediglich zwei bis vier Prozent der Ausgaben im Gesundheitsbereich würden für die Prävention verwendet. „Das ist ein großes Missverhältnis, das uns gesellschaftlich immer wieder auf die Füße fallen wird, auch hinsichtlich der kurativen Medizin“, ist er überzeugt. „Die Pandemie hat das Pandemiedebakel offen gelegt“, erklärte er.
Wolle man in der Prävention erfolgreich sein, so der Sozialmediziner, müsse man zielgruppenspezifisch, risikobezogen und auf Augenhöhe aufklären. Dafür seien im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) bislang einfach nicht die Kapazitäten vorhanden, obwohl der ÖGD eigentlich das Rückgrat der Präventionsmaßnahmen sein müsse. „Ich befürchte, dass die soziale Schere in Deutschland durch die Pandemie und den Lockdown noch weiter aufgegangen ist“, sagte er.
„Die Stärkung der Prävention ist dringend nötig. Dies ist ein Thema, das in die Koalitionsverhandlungen einfließen muss“, forderte der Mediziner. Nach seiner Ansicht muss im Präventionsbereich gewaltig aufgerüstet werden. „Und zwar nicht nur, um bei künftigen Pandemien besser aufgestellt zu sein, sondern auch angesichts einer alternden Gesellschaft und der Zunahme chronischer Erkrankungen“, betonte der Epidemiologe. „Wir brauchen sozial- und gesundheitspolitische Konzepte“, betonte er.
Auch Bertram Häussler vom IGES Institut forderte heute angesichts der OECD-Studie mehr und anderes „Handwerkszeug“ im Präventionsbereich. Bisher habe sich Prävention auf erworbene und chronische Erkrankungen bezogen, Kontaktnachverfolgungen beispielsweise sei man nicht gewohnt.
„Wir müssen jetzt neue und Präventionsmaßnahmen entwickeln, sagte er. So sollte die digitale Infrastruktur ausgebaut werden, um eine kontinuierliche epidemiologische Überwachung zu gewährleisten und Infektionsausbrüche frühzeitig zu identifizieren.
Susanne Walitza von der Universität Zürich wies darauf hin, wie gravierend sich die Pandemie auf die psychische Gesundheit ausgewirkt hat. In den meisten Ländern, für die Daten verfügbar sind, sei die Prävalenz von Angststörungen und Depressionen jetzt mehr als doppelt so hoch wie vor der Pandemie. Besonders Kinder und Familien hätten sehr gelitten, erklärte sie.
„Wir müssen jetzt schauen, wie wir ihnen helfen können, die durch die Pandemie verursachten Defizite wieder auszugleichen. „Dies Maßnahmen müssen aber direkt zu den Betroffenen, zu den Familien gebracht werden, damit sie wirken können“, betonte sie.
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