Entlastung der Unikliniken: Experten befürchten Kampf um Pflegekräfte

Essen – Nach dem mühsam ausgehandelten Entlastungstarifvertrag für sechs Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen (NRW) erwarten mehrere Fachleute einen erheblich verschärften Kampf um die raren Pflegekräfte.
Essens Uniklinik-Direktor Jochen Werner lobt die erzielte Einigung mit der Gewerkschaft Verdi. Die Vereinbarung könne „Vorbildcharakter für Krankenhäuser in ganz Deutschland“ besitzen. Allerdings befürchtet er als Konsequenz der nun notwendigen Aufstockung des Personals an den Unikliniken einen „Verdrängungswettbewerb“ mit Folgen für das gesamte deutsche Gesundheitswesen.
Unikliniken seien personell schon jetzt vergleichsweise gut aufgestellt. „Die Personalschlüssel werden jetzt noch besser werden. Allerdings wird der Sog dann noch stärker in die Unikliniken gehen“, sagte Werner. „Die Verlierer sind alle anderen Krankenhäuser in den Ebenen darunter.“ Am Ende würden die Pflegekräfte nicht mehr an Unikliniken fehlen, „sondern in den kleineren Krankenhäusern, in der ambulanten Pflege oder der Altenpflege“.
Pflegedirektorin Andrea Schmidt-Rumposch kündigte in der WAZ schon an: „Wir werden aktiv und auf allen Kanälen um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben, um Personal aufzubauen. Durch die Vereinbarung werden wir als Arbeitgeber noch attraktiver.“
Auch Edgar Schömig sieht die NRW-Uniklinken in der „Vorreiterrolle bei den Arbeitsbedingungen in der Patientenversorgung“. Der Chef der Kölner Uniklinik und Verhandlungsführer sagte: „Wer in einer Uniklinik arbeitet, kann sich künftig sicher sein, dass es zumindest national keine besseren Rahmenbedingungen in anderen Krankenhäusern gibt.“
Für die Beschäftigten hatte Verdi sich mit den Unikliniken Bonn, Aachen, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster nach massivem Arbeitskampf und elfwöchigen Streiks auf Eckpunkte des sogenannten Tarifvertrags Entlastung (TV-E) verständigt. Formal müssen die Verdi-Mitglieder jetzt noch zustimmen, damit der TV-E am 1. Januar 2023 in Kraft treten kann. Darin werden Entlastungsmodelle für die Beschäftigten geregelt.
Für die Pflegekräfte und teils auch für andere Klinikbereiche werden schichtgenaue Verhältnisse von Beschäftigten und Patienten festgelegt. Wird die Personalquote unterschritten, erhalten die Beschäftigten sogenannte Belastungspunkte, für die es dann eine bestimmte Zahl von freien Tagen gibt. Für Service-, IT- und Technikbereiche sowie Ambulanzen wurden je 30 zusätzliche Vollzeitstellen pro Uniklinik vereinbart. Hinzu kommen Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität.
Katharina Wesenick, Verdi-Fachbereichsleiterin Gesundheit in NRW, spricht von einem „großen Etappensieg“. Auch Politiker und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund NRW/Rheinland-Pfalz äußerten sich positiv zum erzielten Ergebnis. Der Vorsitzende des Marburger Bundes NRW/RLP, Johannes Albert Gehle, mahnte zugleich tarifliche Verbesserungen für seine Klientel an.
Die Politik dürfe nicht vergessen, „dass auch die seit Jahren chronisch überlasteten Ärztinnen und Ärzte dringend Verbesserungen bei ihren Arbeitsbedingungen benötigen“. Im ärztlichen Bereich könnten seit Jahren viele Stellen nicht besetzt werden. „Der Ärztemangel belastet die Kolleginnen und Kollegen zusätzlich.“
Spannend wird sein, wie sich andere Krankenhäuser, darunter etliche Unikliniken in kirchlicher Trägerschaft, positionieren. Dirk Albrecht, Geschäftsführer des katholischen Krankenhausträgers Contilia, der im Ruhrgebiet sieben Krankenhäuser betreibt, verwies auf das eigenständige Tarifsystem, den „dritten Weg“.
Christoph Hanefeld, Chef der katholischen Kliniken Bochum (KKB), geht davon aus, dass der Entlastungstarifvertrag auch Auswirkungen auf die von ihm verantworteten Unikliniken in Bochum, Herne, Hamm, Bad Oeynhausen, Herford und Minden-Lübbecke haben wird.
„Es wird zumindest zu Annäherungen kommen“, so Hanefeld in der WAZ mit Blick auf künftige Verhandlungen. Beim „Bochumer Weg“ gelten derzeit Haustarife nach den Richtlinien des Caritasverbandes. Laut Hanefeld dürfe es keine Zwei-Klassen-Gesellschaft geben. Das würde den längst tobenden Verdrängungswettbewerb ums Personal „nochmals verschärfen“.
So oder so werde der TV-E allein die Pflegemisere in Deutschland nicht lösen, sagte Werner. Dazu müssten tiefgreifende und längst überfällige Reformen im Gesundheitswesen endlich angepackt werden, und zwar bundesweit.
„Weil es auch ein bundesweites Problem ist. Und weil dieser Fachkräftemangel – nicht nur in der Pflege, auch in anderen Bereichen – maßgeblich zusammenhängt mit den unverändert zu vielen Krankenhäusern in Deutschland. Da haben wir den Kern des Problems.“
Im Vergleich zu anderen Ländern leiste man sich laut Werner hierzulande „durchschnittlich deutlich mehr Krankenhausbetten auf die Bevölkerung gerechnet, bei vergleichbaren Pflegepersonalzahlen, aber verteilt auf deutlich mehr Krankenhäuser“. Hinzu komme die „desolate Digitalisierungssituation seit über 30 Jahren“.
Werner: „Wenn wir jetzt nicht anfangen, geplant – und nicht durch die Hintertür, weil immer mehr Krankenhäuser in wirtschaftliche Not kommen – eine bundesweite Strategie zu entwickeln, werden wir nicht weiterkommen.“
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