Wissenschaftshistoriker: Wissenschaft sollte nicht politische Richtung vorgeben

Halle – In Zeiten multipler Krisen sollten Bürger verstärkt über die Funktionsweise der Wissenschaft informiert werden. Es brauche ein besseres gesellschaftliches Verständnis dafür, dass es sich um einen Lernprozess handle, sagte der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn kürzlich bei einer Podiumsdiskussion der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle.
Dabei ging es um Rollen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angesichts großer Herausforderungen, von Coronapandemie über Klimawandel bis hin zur Biodiversitätskrise. Erörtert wurde das Spannungsfeld zwischen der Verantwortung, die Öffentlichkeit über wissenschaftliche Erkenntnisse zu informieren, und der Gefahr des Aktivismus.
Bei der Verwendung von Forderungen wie ‚Follow the science‘ rief Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena, zu Zurückhaltung auf. Er glaube nicht, dass die Wissenschaft eine politische Richtung vorgeben könne und solle.
Was sie aus Renns Sicht aber leisten kann: Optionen und Erkenntnisse anbieten und diese so bündeln, dass man damit im realen Leben etwas anfangen kann. Die Wissenschaft selbst müsse verstärkt Syntheseleistungen erbringen, um der Gesellschaft Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Erfahrungen aus der Coronazeit
In der Coronapandemie sei die Politik mit Einzelbeiträgen der unterschiedlichen Disziplinen überfordert gewesen, so Renn. Zu der Zeit habe man auch gesehen, dass Einschätzungen von Wissenschaftlern, die später korrigiert werden mussten, als falsche Versprechungen aufgefasst worden seien, was das Vertrauen in die Wissenschaft insgesamt untergraben habe.
„Die Forderung, dass Wissenschaft sozusagen feste Wahrheiten liefert, die dann unverrückbar sind, das ist eine Illusion.“ Wissenschaft geschehe nicht im Elfenbeinturm und habe nichts mit Magie zu tun. „Wir müssen diese Praxis transparenter und offener machen“, appellierte er.
Die Diskussionsteilnehmerinnen und - teilnehmer betonten zudem, dass möglichst unterschiedliche Wissensformen zum Tragen kommen sollten. In der Pandemie sei die starke Fokussierung auf die Naturwissenschaften, vor allem die Epidemiologie, ein Fehler gewesen, sagte die Biodiversitätsforscherin Katrin Böhning-Gaese.
Dadurch seien gesellschaftliche Konsequenzen zu wenig berücksichtigt worden. Mit mehr Fachleuten aus Psychologie und Pädagogik in Kommissionen wären vielleicht bessere Ratschläge möglich gewesen, so die Direktorin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ).
Renn zeigte sich skeptisch, ob eine wissenschaftliche Repräsentation in der Politik in Form eines „Chief Scientific Advisors“ hierzulande ins System passt. Erfahrungen damit im Ausland seien auch nicht so gut, dass man dem Vorbild unbedingt folgen müsse.
Es gebe unterschiedliche Rollenverständnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, führte Böhning-Gaese aus: Manche legten den großen Schwerpunkt auf ihre Forschungsarbeit, manche sähen sich als Beratende, andere handelten aktivistisch.
Verantwortung für Schutz der Lebensgrundlagen
Diese Rollen gebe es im Grunde seit der modernen Wissenschaft, sagte der Wissenschaftshistoriker Helmuth Trischler. Neu sei die Bedeutung der Verantwortung, die Wissenschaftler in den aktuellen, sich gegenseitig verstärkenden Krisen hätten. Dies zwinge einem dazu, noch stärker evidenzbasiertes Wissen in die Gesellschaft zu bringen. Es gehe um die Lebensgrundlagen.
Auch die Finanzierung aus Steuermitteln bedeute eine Verantwortung, betonte die Kulturwissenschaftlerin Helen Ahner (Wien). Mit Blick auf die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit in den USA sehe sie sich, trotz gewisser Ängste durch ihre Beschäftigung mit Genderthemen, sogar darin bestärkt, die noch vorhandene Freiheit zu nutzen und zu schützen.
Angesichts der heutigen Reichweite sozialer Medien plädierte Ahner zudem dafür, sich über neue Formen der Wissenschaftsvermittlung Gedanken zu machen, die authentisch sind. „Kann Wissen überhaupt Gegenstand von Influencing sein? Soll es das überhaupt?“ Man könne zudem schnell Gefahr laufen, Formate zu übernehmen, die Nutzende als unangenehm auffassen. Sich dort zu betätigen, sei darüber hinaus auch eine Ressourcenfrage.
Lösungsangebote statt Untergangserzählungen
Die Diskussionsteilnehmenden appellierten zudem mit Blick auf die Debatten über den Klimawandel und Biodiversitätsverlust, dass ein Umdenken nötig sei: hin zu mehr Lösungsangeboten. Mit dem Verbreiten von „Angst und Schrecken“ in der Hoffnung darauf, dass dann gehandelt werde, habe man auch Widerstand und beispielsweise Leugnung des Phänomens hervorgerufen, meinte Böhning-Gaese. Eine weitere Gruppe in der Gesellschaft habe hingegen massive Ängste entwickelt.
Es sei eine Lehre auch aus der Pandemie, dass man die Gesellschaft mit „Untergangserzählungen“ nicht mobilisieren könne, betonte Trischler. Stattdessen müsse man das Prinzip Hoffnung bemühen: Ohne Hoffnung auf einen möglichen Beitrag der Gesellschaft bekomme man die Krisen nicht gelöst.
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