Medizin

Lancet-Kommission: Lebensstilinterventionen fest in Psychiatrie verankern

  • Mittwoch, 13. August 2025
/Microgen, stock.adobe.com
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Sydney – Bewegung, ausgewogene Ernährung, gesunder Schlaf und Rauchstopp sollten fester Bestandteil der psychiatrischen Versorgung werden. Das fordert die Lancet Psychiatry Commission in einem neuen Report (Lancet Psychiatry 2025; DOI: 10.1016/S2215-0366(25)00170-1).

Ziel sei es, die Versorgung zu verbessern und die bis zu 15 Jahre kürzere Lebenserwartung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verringern. „Unser Lebensstil kann den Verlauf unserer psychischen und physischen Gesundheit beeinflussen“, wird Hauptautor Scott Teasdale von der australischen University of New South Wales in einer Mitteilung zitiert.

Viele Betroffene hätten Schwierigkeiten, sich regelmäßig zu bewegen, sich ausgewogen zu ernähren, ausreichend zu schlafen und mit dem Rauchen aufzuhören. „Dies wirkt sich wiederum auf ihre psychische Gesundheit aus und trägt zu Ungleichheiten in der körperlichen Gesundheit bei“, so Teasdale.

Laut Report haben Menschen mit psychischen Erkrankungen 1,4- bis 2,0-mal höhere kardiometabolische Risiken und Erkrankungen als die Allgemeinbevölkerung. Körperliche Erkrankungen seien für 70 % der Todesfälle bei schweren psychischen Erkrankungen verantwortlich.

Wirksam, aber selten umgesetzt

Die Kommission wertete 89 aktuelle Interventionen aus 11 Ländern aus. 85 % der entsprechenden Studien berichteten über psychische Verbesserungen und eine höhere Lebensqualität, 58 % über günstigere kardiometabolische Werte.

Auch Schlaf, Fitness, Ernährung und Rauchverhalten besserten sich. Aus den Ergebnissen wurden 8 Empfehlungen und 19 Handlungsprioritäten abgeleitet, geprüft durch Expertinnen und Experten aus Ländern mit niedrigen Einkommen und Konfliktgebieten.

Trotz der belegten Wirksamkeit würden Lebensstilmaßnahmen selten systematisch in psychiatrischen Diensten umgesetzt, kritisieren die Autorinnen und Autoren. Barrieren seien mangelnde Finanzierung, fehlende Weiterbildung und unzureichende Anpassung an sozioökonomische Bedingungen.

Globale Prinzipien, lokale Anpassung

„Psychiatrische Dienste haben sich traditionell auf Medikamente, Krisenversorgung und Therapie konzentriert, und der Lebensstil wurde nicht priorisiert – weder bei der Finanzierung noch bei der Ausbildung oder der Erbringung von Dienstleistungen“, beschreibt Teasdale.

Der leitende Autor Simon Rosenbaum ergänzte, viele Grundprinzipien seien universell: „Wir haben gemeinsame Elemente identifiziert, die für die Versorgung gelten sollten, egal ob man sich in einem Geflüchtetenlager in Bangladesch oder in einem Krankenhaus in Sydney befindet.“ Dazu gehörten psychologisch sichere Umgebungen und kultursensible, traumainformierte Versorgung.

Die meisten der untersuchten Interventionen wurden in Hochlohnländern durchgeführt, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf ressourcenarme Regionen einschränkt. Zudem fehlte in vielen Studien eine langfristige Erfolgskontrolle, Adhärenz- sowie Umsetzungsdaten wurden häufig unzureichend dokumentiert.

Nichtsdestotrotz zeigt sich Teasdale sicher: „Die Verbesserung dieser Lebensstilfaktoren ist entscheidend für das psychische Wohlbefinden jedes Einzelnen sowie für die Prävention und Behandlung von psychischen Erkrankungen.“ Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigten dafür jedoch gezielte Unterstützung.

Strukturelle Hindernisse werden unterschätzt

Die zunehmende Anerkennung der Notwendigkeit von Lebensstilinterventionen in der psychischen Gesundheitsversorgung in nationalen und internationalen Leitlinien und von führenden Organisationen wie der World Psychiatric Association schaffe einen günstigen Zeitpunkt für Veränderungen, schließt der Report.

Gleichzeitig wird angemerkt, dass der Schwerpunkt bei Maßnahmen zur Änderung des Lebensstils oft auf individuelle Verhaltensänderungen gelegt werde – strukturelle Hindernisse wie Armut, Bildung, Wohnsituation und systemische Ungleichheiten, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gesundheit haben, würden hingegen unterschätzt.

Entsprechend betonen die Autorinnen und Autoren: „Maßnahmen zur Änderung des Lebensstils sollten zusammen mit vorgelagerten Faktoren wie Einkommensungleichheit, unsicheren Wohngegenden, unzureichender Versorgung mit Lebensmitteln und Ernährungsunsicherheit oder mangelndem Zugang zu Gesundheitsversorgung betrachtet werden, die einen wesentlichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten haben.“

Körperliche Nebenwirkungen von Psychopharmaka

Der Bericht ist eine von zwei Arbeiten, die aktuell von der The Lancet Psychiatry Physical Health Commission veröffentlicht wurden. Die zweite Publikation (Lancet Psychiatry 2025; DOI: 10.1016/S2215-0366(25)00162-2) konzentriert sich auf die körperlichen Nebenwirkungen von Psychopharmaka.

Diese reichen von Gewichtszunahme und metabolischen Veränderungen über kardiovaskuläre Risiken bis hin zu sexuellen Funktionsstörungen. Viele dieser Nebenwirkungen treten bereits in den ersten Behandlungswochen auf und können die Therapieadhärenz erheblich beeinträchtigen.

Paul Keedwell, Fellow des britischen Royal College of Psychiatrists, nennt in einer unabhängigen Einordnung zwei Gründe für etwaige Gewichtszunahmen und metabolischen Störungen: „Erstens leiden viele Menschen an behandlungsresistenten Erkrankungen, darunter beeinträchtigende Depressionen und Schizophrenie, deren Symptome sie davon abhalten, Sport zu treiben und gesunde Mahlzeiten zu planen oder zuzubereiten.“

Zum anderen stellten viele Medikamente, die Menschen möglicherweise benötigen, um gesund zu bleiben, ein Hindernis für körperliche Bewegung dar, da sie etwa lethargisch machten. Dies gelte insbesondere für Antipsychotika wie Clozapin, die häufig zu Gewichtszunahme führen.

„Bis wirksamere und besser verträgliche Medikamente für psychische Erkrankungen entwickelt sind, sollte der Einsatz zusätzlicher Medikamente wie Metformin, die auch ohne Diabetes zur Gewichtsabnahme beitragen können, stärker in Betracht gezogen werden“, regt Keedwell an. Außerdem könnten Keedwell zufolge Menschen mit medikamenteninduzierter Adipositas stark von GLP-1-Agonisten profitieren.

Psychische und physische Gesundheitsversorgung oft getrennt

Auch die Autorinnen und Autoren des Berichts sehen Metformin und GLP-1-Agonisten für bestimmte Gruppen als medikamentöse Gegenstrategie, um entsprechende körperliche Nebenwirkungen gezielt zu managen.

Darüber hinaus seien eine gezielte Wahl des Wirkstoffs und eben begleitende Lebensstilmaßnahmen wichtig. Zudem sollten Betroffene frühzeitig über mögliche Risiken aufgeklärt werden, um gemeinsam informierte Therapieentscheidungen zu treffen.

Mit Blick auf beide Berichte kommentiert Jo Howe von der britische Aston University, dass psychische und physische Gesundheitsversorgung allzu oft isoliert voneinander stattfänden, wodurch Präventionsmöglichkeiten verpasst würden: „Diese Berichte sind fundiert und basieren auf aktuellen Erkenntnissen, aber ihre tatsächliche Wirkung wird davon abhängen, ob diese Isolation überwunden werden kann, sowie von der Kapazität des Personals, der Neugestaltung der Dienste und dem politischen Engagement.“

Bei guter Umsetzung könnten sie dazu beitragen, die „inakzeptable Lücke von 13 bis 15 Jahren in der Lebenserwartung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu schließen“.

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