Medizin

Rund jeder achte Befragte berichtet von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend

  • Montag, 2. Juni 2025
/AungMyo, stock.adobe.com
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Mannheim – Knapp 13 % der Teilnehmenden habe in einer Umfrage in Deutschland von sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend berichtet. Das schreibt ein Forschungsteam um Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) im Deutschen Ärzteblatt (2025; DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0076).

Rechne man die Ergebnisse auf ganz Deutschland hoch, sei von 5,7 Millionen Betroffenen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren auszugehen, sagte Dreßing heute auf einer Pressekonferenz. Hinter diesen Zahlen verbergen sich viele schwere Einzelschicksale und schweres Leid. „Wenn ein Kind Opfer sexualisierter Gewalt wird, ist das ein schweres Trauma. Das kann ein Leben zerstören“, sagte Dreßing, der die Forensische Psychiatrie am ZI leitet.

Trotz wachsender gesellschaftlicher Aufmerksamkeit haben der Studie zufolge mehr als ein Drittel (37,4 %) der Betroffenen bis zur Befragung mit niemandem über das Erlebte gesprochen. Die Gründe seien oft Scham, Schuldgefühle und die Angst, dass einem nicht geglaubt werde, sagte Dreßing. Eine Strafanzeige sei in 7,4 % der Fälle gestellt worden. Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei ein weitgehend verborgenes Problem, schlussfolgern die Forschenden.

Die Zahlen sollten für „alle Personen, die auf diesem Feld Verantwortung tragen und Einfluss haben, ein dringender Appell zum Handeln sein“, sagte Dreßing. Die gesamtgesellschaftliche Sensibilität bei Gewalt gegen Kinder und Jugendliche müsse verbessert werden. Aber auch das Wissen über Hilfsmöglichkeiten müsse mehr verbreitet werden. So hätten nur 53,5 % der Befragten angegeben, zu wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie den Verdacht auf einen sexuellen Missbrauch im privaten Umfeld haben.

Für die Studie befragten die Forschenden in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Infratest-dimap im vergangenen Jahr rund 3.000 Menschen zwischen 18 und 59 Jahren nach Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter. Als sexualisierte Gewalt galt dabei „jede Handlung mit sexuellem Bezug, die gegenüber Personen unter 14 Jahren oder gegen den Willen einer Person unter 18 Jahren geschieht“.

Insgesamt wurden 10.000 Menschen angeschrieben, rund 30 % antworteten. Zu beachten ist dabei, dass Menschen mit Gewalterfahrungen möglicherweise überdurchschnittlich häufig an der Studie teilgenommen haben, wie Dreßing einräumte.

Gleichzeitig könnte es aber auch zu einer Untererfassung bestimmter Fälle gekommen sein. Denn Menschen, die in betreuten Einrichtungen und Heimen leben und signifikant häufiger von sexueller Gewalt betroffen sind, seien nicht in der Studie erfasst worden.

Von den Befragten gaben 12,7 % – also in etwa jeder Achte – an, im Kindes- und Jugendalter sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Die Zahl liege im internationalen Schnitt, so Dreßing. Frauen waren demnach 4 Mal so häufig betroffen (20,6 %) wie Männer (4,8 %).

Knapp die Hälfte (45,9 %) der Betroffenen berichtete, mehrmals sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. „Am häufigsten gaben Betroffene an, in der Familie oder durch Verwandtschaft sexualisierte Gewalt erfahren zu haben“, heißt es in der Studie.

Insbesondere im Familienumfeld seien Mädchen häufiger betroffen, sagte Dreßing. Im Umfeld von Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Kontext und im Rahmen der Kinder-. Jugend- und Familienhilfe wurden hingegen Jungen öfter Opfer.

„Wir haben es hier offensichtlich durchaus mit zwei sehr unterschiedlichen Tatbereichen und auch tatgeneigten Personen zu tun“, sagte Dreßing. Das zeige die Notwendigkeit, Schutzkonzepte sowohl an die potenziellen Opfer als auch an die potenziellen Täter anzupassen.

Ein Faktor, warum Männer deutlich seltener von sexualisierter Gewalt berichten, könnte auch eine größere Tabuisierung des Themas sein.

In 95 % der Fälle war der Täter laut Umfrage männlich, bei jedem 20. Fall gab es eine Täterin. In der überwiegenden Zahl der berichteten Fälle kam es zu Körperkontakt, in knapp jedem 4. Fall zu Penetration.

Dreßing wies daraufhin, dass die große Mehrheit der Täter nicht pädophil sei. Menschen mit Pädophilie im Sinne der diagnostischen Merkmale machten nur etwa 20 % aller Täter aus. Die große Mehrheit handele aus anderen Beweggründen.

Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des ZI in Mannheim und ebenfalls an der Studie beteiligt, sagte: „Sexualisierte Gewalt hat einen ganz wesentlichen negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Betroffenen.“ Studien zeigten, dass fast 90 % der Betroffenen angeben, dass ihre Erlebnisse einen wesentlichen negativen Einfluss auf ihre Psyche haben.

Erstmals wurden in der nun veröffentlichten Untersuchung auch sogenannte technologiegestützte Tatkontexte systematisch erfasst: Fast ein Drittel (31,7 %) der Befragten berichtete von Übergriffen über soziale Medien oder das Internet (Frauen: 34,9 %, 28,2 % Männer).

Unter „technologiegestützter sexualisierter Gewalterfahrung“ verstehen die Forschenden unter anderem ungewollten Kontakt mit pornografischem Material, ungewollte Gespräche über sexuelle Dinge, Druck, sexuelle Bilder zu teilen und Erpressung mit sexuellen Bildern/Videos.

fri

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