SARS-CoV-2: Experten kritisieren 3. Dosis trotz leicht nachlassender Schutzwirkung

Genf und Atlanta – Ein internationales Forscherteam, darunter Mitarbeiter der US-Arzneimittelagentur FDA und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sprechen sich in einem Beitrag im Lancet (2021; DOI: 10.1016/ S0140-6736(21)02046-8) zum derzeitigen Zeitpunkt gegen eine 3. Dosis einer COVID-19-Impfung aus, die in vielen Ländern diskutiert und teilweise bereits praktiziert wird. Ihr Hauptargument ist die geringe Zahl von tödlichen Durchbruchinfektionen auch unter der Delta-Variante.
Mitarbeiter der US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC) kommen in 3 Studien im Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR) zu dem Ergebnis, dass die Impfstoffwirksamkeit seit der Dominanz der Delta-Variante leicht zurückgegangen ist. Die meisten Todesfälle treten jedoch nach wie vor in der ungeimpften Bevölkerung auf.
Die Angst vieler geimpfter Menschen, in Zeiten steigender Inzidenzen eine Durchbruchinfektion zu erleiden, und die Sorge der Politiker vor einer Überlastung des Gesundheitswesens haben in den letzten Wochen die Idee einer Auffrischung aufkommen lassen. Einige Länder wie Frankreich haben sie frühzeitig für Menschen mit Immunschwäche eingeführt, andere wie Israel machen bereits allen Erwachsenen ein Impfangebot. Die US-Regierung plant dies ebenfalls.
Eine Vorentscheidung könnte am kommenden Freitag auf einer Tagung der CDC fallen. In ärmeren Ländern wird befürchtet, dass die Auffrischung in den reicheren Ländern den globalen Impfstoffmangel verschärft und viele Menschen noch länger auf eine 1. Dosis warten müssen.
Jetzt hat ein Team um WHO-Mitarbeiterin Ana-Maria Henao-Restrepo, Genf, und den FDA-Mitarbeitern Philip Krause und Marion Gruber (die laut Presseangaben inzwischen aus Protest gegen die Pläne der Biden-Administration gekündigt haben) Partei für die ärmeren Länder ergriffen. Die Experten argumentieren, dass die ersten beiden Dosen der Impfung trotz der Dominanz der Delta-Variante derzeit noch eine ausreichende Schutzwirkung vor einer schweren Erkrankung bieten.
Die 18 Autoren stützen sich dabei in ihrem „Viewpoint-Artikel“ im Wesentlichen auf die Erfahrungen aus den klinischen Studien. Dort war die Schutzwirkung vor einer schweren Erkrankung durchweg höher ausgefallen als die Schutzwirkung vor einer Infektion. Dies gilt nach Einschätzung der Experten auch für die Delta-Variante. Sie befürchten, dass eine zu frühzeitige Boosterung das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung gefährden könnte, dann nämlich, wenn den Berichten über Impfkomplikationen wie Myokarditis oder Guillain-Barré-Syndrom keine glaubhaften Daten über den Zusatznutzen des Boosters gegenübergestellt werden könnten.
Die jüngsten Zahlen der CDC zeigen, dass die Schutzwirkung der Impfung vor dem Hintergrund der Delta-Variante leicht nachgelassen hat, insgesamt aber noch sehr hoch ist. Heather Scobie und Mitarbeiter haben die COVID-19-Fälle seit April ausgewertet und dabei die Zeiträume vor und nach Auftreten der Delta-Variante verglichen.
Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das Risiko von ungeimpften Personen, im Fall einer Infektion an COVID-19 zu sterben, zuletzt 11,3-fach höher war als bei vollständig geimpften Personen. Vor dem Auftreten von Delta war die Sterblichkeit jedoch noch 16,6-fach höher. Das Infektionsrisiko war vor Eintreffen von Delta für ungeimpfte Personen 11,1-fach höher als für geimpfte Personen. Seit Delta ist der Quotient auf 4,6 gefallen. Bei den Hospitalisierungsrisiko kam es zu einem Rückgang von 13,3 auf 10,4. Danach sind Geimpfte auch in den Zeiten der Delta-Variante deutlich besser geschützt als Ungeimpfte. Der „Vorsprung“ ist jedoch etwas geschrumpft (MMWR, 2021; DOI: 10.15585/mmwr.mm7037e1)
Shaun Grannis und Mitarbeiter hatten die Daten des VISION-Netwerks ausgewertet, das die Erfahrungen von 187 Kliniken und 221 Notfallabteilungen sammelt. Unter den Erwachsenen, die mit einer COVID-19-ähnlichen Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert wurden, lag bei 18,9 % der Ungeimpften eine Infektionen mit SARS-CoV-2 vor. Unten den Geimpften waren nur 3,1 % infiziert. Grannis ermittelt eine Impfstoffwirksamkeit von 86 %, die im Alter von 75 Jahren mit 76 % signifikant niedriger als bei jüngeren Patienten mit 89 % ausfiel. Über alle Altersgruppen hinweg erzielte der Moderna-Impfstoff mit 95 % die höchste Schutzwirkung vor Biontech-Pfizer mit 80 % und Janssen mit 60 % (MMWR, 2021; DOI: 10.15585/mmwr.mm7037e2).
Kristina Bajema und Mitarbeiter haben die Effektivität der beiden mRNA-Impfstoffe bei US-Veteranen untersucht, die sich überwiegend im Seniorenalter befinden und meist einen schlechteren Gesundheitszustand haben als der Rest der Bevölkerung. Auch in dieser Risikokonstellation ist die Schutzwirkung seit dem Auftreten der Delta-Variante nur leicht zurückgegangen. Die Schutzwirkung vor einer COVID-19-assoziierten Krankenhauseinweisung ist von 89,3 % auf 84,1 % gesunken. Sie war insgesamt (vor und seit Delta) bei den Senioren (ab 65 Jahren) mit 79,8 % niedriger als bei den jüngeren Veteranen (unter 65 Jahre) 95,1 % (MMWR, 2021; DOI: 10.15585/mmwr.mm7037e3).
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