Medizin

Tranexamsäure im Rettungswagen ohne langfristige funktionelle Vorteile

  • Mittwoch, 12. Juli 2023
/LIGHTFIELD STUDIOS, stock.adobe.com
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Canberra/Australien – Die frühzeitige Injektion des Antifibrinolytikums Tranexamsäure, die bei Patienten mit Polytrauma und dem Verdacht auf eine durch den Blutverlust ausgelöste Koagulopathie seit der Studie CRASH-2 international empfohlen wird, hat in einer aktuellen Studie in Ländern mit einer hochwertigen Notfallversorgung zwar erneut das Sterberisiko in den ersten Lebenswochen gesenkt.

Nach 6 Monaten war jedoch kein Vorteil im Überleben mit guten funktionellen Ergebnissen mehr nachweis­bar. Die Ergebnisse wurden auf der Tagung „Critical Care Reviews“ in Belfast vorgestellt und im New England Journal of Medicine (NEJM 2023; DOI: 10.1056/NEJMoa2215457) publiziert.

Viele Patienten, die nach einem Polytrauma lebend in die Klinik transportiert werden können, sterben in den folgenden Stunden an den Folgen der starken Blutungen. Der Tod ist dabei nicht auf den Blutverlust zurück­zuführen, der in der Klinik zumeist ausgeglichen werden kann.

Es kommt vielmehr zu einer traumabedingten Koagulopathie, die auf einen Mangel an Gerinnungsfaktoren (auch infolge der Volumentherapie in der Klinik) bei gleichzeitiger Hyperfibrinolyse (infolge der durch Gewe­beschädigung ausgelösten Plasminogenaktivierung) zurückzuführen ist.

Die Patienten erhalten deshalb noch vor Erreichen der Klinik eine intravenöse Injektion von 1 g Tranexam­säure. Das hochpotente Antifibrinolytikum, das die Blutgerinnung normalisieren soll, hatte in der interna­tionalen Studie CRASH-2 („Clinical Randomisation of an Antifibrinolytic in Significant Haemorrhage“) die Sterberate von Patienten mit Blutungstrauma gesenkt.

Spätere Analysen zeigten, dass die Behandlung umso wirksamer ist, je frühzeitiger sie erfolgt. Deshalb wird die Behandlung heute in der Regel bereits im Rettungswagen begonnen, wenn ein erhöhter COAST-Score („Coagulopathy of Severe Trauma“) auf die Gefahr einer Koagulopathie hinweist.

Der COAST-Score bewertet die Einklemmung in einem Fahrzeug, einen systolischen Blutdruck unter 100 mm Hg, eine Körpertemperatur unter 35 °C, einen Pneumothorax und den Verdacht auf innere Bauch-/Beckenver­letzungen mit jeweils 1 Punkt. Ein Abfall des Blutdrucks auf unter 90 mm Hg und der Körpertemperatur auf unter 32 °C ergibt jeweils einen weiteren Punkt. Das Risiko einer Koagulopathie besteht bei mindestens 3 von maximal 7 Punkten.

Die Studie CRASH-2 war in 40 Ländern mit sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen durchgeführt worden. Es war deshalb unklar, ob die Ergebnisse auch für Länder mit einer hochentwickelten Notfallmedizin gelten. Außerdem waren die Patienten nur über die ersten 4 Wochen nachbeobachtet worden, so dass es keine Informationen über die langfristige Prognose der Patienten gab.

Die Studie PATCH-Trauma („Pre-hospital Antifibrinolytics for Traumatic Coagulopathie and Hemorrhage“) hat in den letzten Jahren den Nutzen der Tranexamsäure-Behandlung in 21 Kliniken in Australien, Neuseeland und Deutschland untersucht, die eine hochentwickelte Notfallmedizin haben.

Zwischen Juli 2014 und September 2021 wurden 1.310 Polytrauma-Patienten mit einen COAST-Score von 3 oder höher auf einen intravenösen Bolus von 1 g Tranexamsäure im Rettungswagen plus eine Infusion von 1 g Tranexamsäure über 8 Stunden in der Klinik oder auf Placebo randomisiert.

Wie das Team um Russell Gruen von der Australian National University in Acton bei Canberra berichtet, hat die Behandlung mit Tranexamsäure das Sterberisiko der Patienten wie in der Studie CRASH-2 gesenkt. In der Tranexamsäuregruppe starben in den ersten 28 Tagen nach der Verletzung 113 von 653 Patienten (17,3 %) gegenüber 139 von 637 Patienten (21,8 %) in der Placebogruppe.

Gruen ermittelt eine Risk Ratio von 0,79, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 0,63 bis 0,99 knapp signifikant war. Dieser Vorteil ging jedoch in den folgenden Wochen und Monaten langsam verloren. Nach 6 Monaten waren in der Tranexamsäuregruppe 123 von 648 Patienten (19,0 %) verstorben gegenüber 144 von 629 (22,9 %) in der Placebogruppe (Risk Ratio 0,83; 0,67-1,03).

Gleichzeitig kam es zu einer Zunahme der Patienten, die nach 6 Monaten eine starke Behinderung aufwiesen. Im primären Endpunkt der Studie, einem Überleben mit einem günstigen funktionellen Ergebnis, gab es keine Unterschiede mehr.

Das funktionelle Ergebnis wurde mit der „Glasgow Outcome Scale–Extended“ (GOS-E) bewertet, die von 1 Punkt (Tod) bis 8 Punkten (gute Erholung ohne verletzungsbedingte Probleme) reicht. Als Kriterium für ein günstiges funktionelles Ergebnis wurde ein GOS-E-Wert von 5 Punkten („geringere moderate Behinderung“) oder besser gewertet.

Dieses Ziel erreichten in der Tranexamsäuregruppe 307 von 572 Patienten (53,7 %) gegenüber 299 von 559 Patienten (53,5 %) in der Placebogruppe. Dies ergibt eine Risk Ratio von 1,00 (0,90 bis 1,12). Damit hätte die Tranexamsäurebehandlung 4 von 100 Patienten in den ersten Wochen nach der Behandlung das Leben gerettet, aber zum Preis von höheren späteren Behinderungen bei 4 Patienten. Den Grund hierfür konnte die Studie nicht ermitteln. Ein Anstieg von thrombotischen Komplikationen, einer möglichen Nebenwirkung von Tranexamsäure, war laut Gruen nicht erkennbar.

Die Bewertung der Ergebnisse dürfte den Fachgesellschaften schwer fallen. Die Studie erfüllt die Kriterien für evidenzbasierte Empfehlungen. Eine Schwäche, auf die Haleema Shakur-Still von der London School of Hygiene and Tropical Medicine im Editorial hinweist, ist die hohe Zahl von Protokollverstößen bei 35 % der Patienten (17 % der Placebogruppe erhielten Tranexamsäure, und 21 % der Tranexamsäure-Gruppe die zweite Dosis nicht). Außerdem konnten 14 % der Patienten nicht nachuntersucht werden.

rme

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