Variolation: SARS-CoV-2-Infektionen könnten durch Mund-Nasen-Schutz häufiger asymptomatisch verlaufen

San Francisco – Ein Mund-Nasen-Schutz kann nicht nur andere Menschen vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 schützen. Er verhindert auch, dass die Träger die Viren in größerer Menge aufnehmen, was im Fall einer Infektion schwere Erkrankungen verhindern könnte.
Für eine solche Variolation gebe es derzeit verschiedene Hinweise, berichten US-Mediziner in Beiträgen im New England Journal of Medicine (2020; DOI: 10.1056/NEJMp2026913) und im Journal of General Internal Medicine (2020: DOI: 10.1007/s11606-020-06067-8).
Vor der Entwicklung der Pockenimpfung, der ersten Vakzination der Medizingeschichte, war in vielen Ländern die Variolation gebräuchlich. Ärzte rieben dabei die Haut von gesunden Menschen mit dem Pustelsekret von an Pocken Erkrankten ein. Es kam dann zu einer Pockenerkrankung, die jedoch häufig schwächer verlief. Die Variolation wurde nach der Entwicklung der Impfstoffe aufgegeben, da die Wirkung nur schwer vorhersehbar ist und tödliche Verläufe möglich sind.
Die Geschichte könnte sich derzeit wiederholen, wenn auch auf andere Weise, glaubt die Infektiologin Monica Gandhi von der Universität von Kalifornien in San Francisco. Die Welt ist erneut ohne einen effektiven Impfstoff gegen ein neues Virus. Und erneut könnten Menschen durch eine Variolation vor schweren Verläufen geschützt werden.
Zwar gebe es anders als vor der Entwicklung des Pockenimpfstoffes (soweit bekannt) keine Ärzte, die Variolationen durchführen – indem sie etwa gesunde Menschen mit COVID-19-Patienten zusammen bringen, was wegen der damit verbundenen Gefahren ethisch kaum zu rechtfertigen wäre. Auch Coronapartys sind verboten. Eine ähnliche Wirkung wie die Variolation könnte nach Ansicht von Gandhi jedoch der Mund-Nasen-Schutz erzielen.
Die Mund-Nasen-Bedeckung zählt derzeit zu den wichtigsten Instrumenten, um die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu verhindern. Die Wirkung beruht nach Ansicht der Epidemiologen primär darauf, dass Erkrankte und asymptomatisch Infizierte dank der Masken das Virus nicht mit Tröpfchen und Aerosolen in die Umgebung versprühen, wo andere Menschen sich anstecken könnten. Eine Schutzwirkung für den Träger ist für die Eindämmung der Epidemie im Prinzip nicht erforderlich.
Nach Ansicht von Gandhi ist es jedoch plausibel, dass die Mund-Nasen-Bedeckung durch eine Filterwirkung die Menge der aufgenommenen Viren begrenzt. Dies könnte im Fall einer Infektion dazu führen, dass die Erkrankung weniger schwer und häufiger asymptomatisch verläuft, vermutet die Infektiologin, die für diese Hypothese experimentelle Daten und epidemiologische Beobachtungen anführt.
Als experimentell gesichert gilt, dass die Zahl der aufgenommenen Viren den Verlauf der Erkrankung beeinflusst. In Tierexperimenten wird häufig die LD50 bestimmt. Das ist die Dosis, bei der die Hälfte der Versuchstiere stirbt.
Beim Menschen gibt es natürlich keine Experimente zur LD50. Nach der Schweinegrippe wurden jedoch in einem Labor des US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) in Bethesda gesunde Probanden mit verschiedenen Mengen des Influenzavirus vom Typ A(H1N1)pdm09 inokuliert, um zu ermitteln, welche Menge an Viren in die Nase eingebracht werden muss, um eine leichte Grippe zu erzeugen.
Das Ergebnis war eine Dosis-Wirkungsbeziehung (Clinical Infectious Diseases, 2015; DOI: 10.1093/cid/ciu924). Sie zeigt nach Ansicht von Gandhi, dass auch bei respiratorischen Viren die Menge einen Einfluss auf den Verlauf der Infektion hat.
Für SARS-CoV-2 gibt es eine ähnliche Studie an Hamstern. Dabei wurde die Luft aus den Käfigen mit erkrankten Tieren über einen Ventilator in Käfige mit gesunden Tieren geleitet. Wenn eine chirurgische Maske als Filter in den Ventilator eingebaut wurde, sank nicht nur die Infektionsrate. Histologische Untersuchungen der Atemwege zeigten, dass die Erkrankung im Fall einer Infektion milder verlief (Clinical Infectious Diseases, 2020; DOI: 10.1093/cid/ciaa644).
Beim Menschen könnte der Mund-Nasen-Schutz ebenfalls zu milderen Erkrankungen führen. Einen Hinweis dafür sieht Gandhi im steigenden Anteil der asymptomatischen Infektionen. Dieser habe in der ersten Studie vor der Einführung der Maskenpflicht bei 15 % gelegen.
Inzwischen würden 40 bis 45 % der Infizierten ohne Symptome bleiben (Annals of Internal Medicine, 2020; DOI: 10.7326/M203012). Exemplarisch habe sich dies auch bei den Ausbrüchen auf Kreuzfahrtschiffen gezeigt.
Auf der Diamond Princess lag der Anteil der asymptomatischen Infektionen im Bereich von 20 %. Auf der Ernest Shackleton blieben 81 % der Infizierten ohne Symptome. Der Unterschied bestand laut Gandhi darin, dass auf der Ernest Shackleton frühzeitig alle Passagiere mit N95-Masken ausgestattet wurden (DOI: 10.1136/thoraxjnl-2020-215091).
Dies hat zwar nicht verhindert, dass sich mehr als die Hälfte der Passagiere infizierten, doch nur wenige erkrankten. Es gab allerdings einen Todesfall, der zeigt, dass eine „Variolation“ durch Mund-Nasen-Bedeckung keinen absoluten Schutz gewährt.
Für die „Variolation“ spricht laut Gandhi auch, dass in Ländern, die die Mund-Nase-Bedeckung rasch eingeführt hatten, die Zahl der Todesfälle geringer war als in den USA, wo viele Menschen sich vehement weigern, andere und nach der Hypothese von Gandhi auch sich vor einer Infektion zu schützen.
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