Medizin

Wie unser Gehirn Gedichte analysiert

  • Montag, 11. Mai 2020
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Frankfurt/Nijmegen – Die streng strukturierte Form von Gedichten erleichtert ihre Wahrnehmung und das Verständnis. Wie dies geschieht, zeigt eine Untersuchung von Forschern der Max-Planck-Institute für empirische Ästhetik und für Psycholinguistik, der New York University Shanghai, der East China Normal University und des Unternehmens Google. Die Arbeit ist in der Fachzeitschrift Current Biology erschienen (doi 10.1016/j.cub.2020.01.059).

Poetische Sprache weicht in der Regel von der Alltagssprache ab. Zum Beispiel verwenden die Autoren oft ungewöhnliche Wortkombinationen, um die poetische Wirkung zu maxi­mieren. Gleichzeitig ist Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen oder der Alltagssprache oft sehr streng strukturiert.

Das internationale Forscherteam ging von der Annahme aus, dass die feststehende Struktur von Gedichten als mentale Vorlage dienen kann, die es Lesern und Zuhörern erlaubt, kreative poetische Sprache in schlüssige Zusammenhänge zu gruppieren. Um ihre Hypothese zu überprüfen, konzentrierten sich die Wissenschaftler auf sogenannte Jueju-Gedichte. Hierbei handelt es sich um ein Genre altchinesischer Dichtung, das einen äußerst strengen Stil aufweist.

Mit Hilfe eines neuronalen Netzwerks generierten sie künstliche Jueju-Gedichte mit von ihnen bestimmten poetischen Inhalten. Fast 80.000 altchinesische Gedichte aus 5 Dynastien wurden in eine künstliche Intelligenz eingespeist, die daraus lernte, Gedichte auf Grundlage des Jueju-Stils zu erstellen.

Anschließend ließen die Forscher die Gedichte vorlesen, entfernten aber mittels eines Computers die Pausen, die Intonation und andere Anhaltspunkte eines menschlichen Sprechers, so dass sich die Zuhörer auf ihr Wissen über poetische Strukturen verlassen mussten, um den Sprachfluss zu analysieren.

Danach analysierten chinesische Muttersprachler die künstlichen Sprachflüsse, während sie in einem Magnetenzephalographie-Scanner lagen. Ziel der Forscher war es dabei, neuronale Signale in den Gehirnen der Studienteilnehmer zu erkennen, die den poetischen Strukturen der Jueju-Gedichte entsprachen. Tatsächlich entdeckten die Wissenschaftler einen Hirnrhythmus von etwa 0,67 Hertz, der der Zeilenstruktur von Jueju entspricht.

Obwohl die Zuhörer jedes Gedicht zum ersten Mal hörten und nicht jede Zeile des Altchinesischen vollständig verstehen konnten, erkannten sie laut den Forschern dennoch die strenge Struktur und gruppierten den poetischen Sprachfluss in Verse, entsprechend ihrer Vorkenntnisse von Jueju.

Beim zweiten Durchgang hatte ihr Gehirn die Struktur bereits erlernt und konnte den Verlauf der Gedichte vorhersagen – dementsprechend beschleunigte sich ihr Hirn­rhythmus.

Damit liefert die Studie nach Interpretation der Wissenschaftler Hinweise darauf, dass für die ästhetische Wahrnehmung von Gedichten nicht nur die poetische Sprache allein, sondern insbesondere das Zusammenspiel von einer vorhersehbaren Struktur und unvorhersehbaren Inhalten wesentlich ist.

hil

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