Wildtypvarianten von SARS-CoV-2 breiten sich bei Weißwedelhirschen aus

New York – Der Weißwedelhirsch, der in Nordamerika weit verbreitet und häufig gejagt wird, hat sich zu einem wichtigen Reservoir von SARS-CoV-2 in der Natur entwickelt. Nach einer Studie in den Proceedings of the National Academy of Sciences (2023; DOI: 10.1073/pnas.2215067120) kursieren unter den Tieren auch die früheren Varianten Alpha und Gamma, die zum Zeitpunkt der Untersuchung beim Menschen schon seit mehreren Monaten nicht mehr gefunden wurden. Außerdem haben sich die Viren bei den Hirschen weiterentwickelt. Sie könnten deshalb zum Ausgangspunkt eines „Spillback“ oder sogar zur „Brutstätte“ neuer Varianten werden.
Der ACE2-Rezeptor des Weißwedelhirsches (Odocoileus virginianus) hat eine hohe Übereinstimmung zum Menschen, was eine Infektion mit SARS-CoV-2 erleichtert. Die Viren wurden bereits frühzeitig in der Pandemie bei den Tieren nachgewiesen, die in vielen Regionen von Menschen gefüttert werden. Weißwedelhirsche sind auch ein beliebtes Jagdobjekt mit etwa 6,5 Mio. Abschüssen pro Jahr in den USA und Kanada. Beim Ausweiden der Tiere kann das Virus leicht wieder auf den Menschen übertragen werden.
Die Ausbreitung von SARS-CoV-2 beim Weißwedelhirsch wird deshalb genau beobachtet. Im Rahmen des „Chronic Wasting Disease Surveillance Program“, das ursprünglich die Ausbreitung einer Prionenhrankheit untersucht hat, wurden 5.462 erjagte Tiere untersucht.
Wie ein Team um Diego Diel von der Cornell University in New York jetzt berichtet, waren in der Jagdsaison 2020 erst 0,6 Prozent der Tiere infiziert. In der Saison 2021 schnellte der Anteil auf 21 Prozent empor. Damit ist klar, dass die Infektionen nicht nur ein temporäres Problem sind.
Viele Tiere waren gleichzeitig mit den Varianten Alpha, Gamma und Delta infiziert, und das zu einem Zeitpunkt, als Alpha und Gamma schon seit Monaten nicht mehr beim Menschen aufgetreten waren, weil sie 2021 vollständig von Delta abgelöst worden waren. Bei den Hirschen scheint es einen solchen Verdrängungsprozess nicht zu geben.
Im Gegenteil: Die Varianten haben sich mit der Zeit genetisch weiterentwickelt. Dabei ist es zu Mutationen gekommen, die bisher beim Menschen nicht aufgetreten sind. Einige Mutationen haben nach Einschätzung von Diel die Infektiosität oder Virulenz von SARS-CoV-2 erhöht.
Damit steige die Gefahr, dass ein „Spillback“ von Alpha, Gamma oder Delta auf Menschen, die ihre Immunität gegen diese Virusvarianten verloren haben, eine neue Epidemie auslösen könnte. Zu einem Risiko könnte SARS-CoV-2 auch bei einem „Spillover“ auf andere Tiere werden, die die Infektion weniger gut vertragen als die Weißwedelhirsche.
Derzeit scheint das Risiko eines „Spillback“ auf den Menschen gering zu sein. Bisher wurde nur ein einziger Fall dokumentiert, bei dem sich ein Mensch bei einem Hirsch angesteckt hat. Kanadische Forscher stellten den Kasus im Dezember in Nature Microbiology (2022; DOI: 10.1038/s41564-022-01268-9) vor.
Der Patient erkrankte etwa eine Woche nach einem Kontakt zu Weißwedelhirschen, und die Viren hatten dieselbe Sequenz, die bei anderen Hirschen gefunden wurden. Die Sequenz ist später jedoch nicht wieder bei humanen Infektionen mit SARS-CoV-2 aufgetreten, so dass sich die Variante wohl nicht ausgebreitet hat.
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